Selbstbefragung eines Lügners

Herbst 2008 krachte das isländische Finanzwesen in sich zusammen. Die Landsbanki und weitere Institute spuckten ihre spekulativen Verluste aus und zogen das Land tief in den Bankrott. Zurück blieben Ratlosigkeit und Schulden. Vor diesem Hintergrund scheinen isländische Theaterschaffende geradezu prädestiniert dafür, das nordische Epos des phantastischen Bankrotteurs Peer Gynt auf die Bühne zu bringen. Aber so einfach macht es sich die Luzerner Inszenierung freilich nicht.

(Von Beat Mazenauer / Bild: Toni Suter)

Zu Beginn geht es gleich in medias res, Akt 5: Peer Gynts Fahrt nach Hause, auf der er einen Schiffbruchpartner von der rettenden Planke ins Meer stößt und danach einem geheimnisvollen Passagier begegnet. Dieser lässige Agent des Todes erweist sich bald als Verkörperung einer der drei Gyntschen Spielformen. Der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson und der Dramaturg Ulf Frötzschner haben den sperrigen und ausufernden Charakter des Ibsen-Stücks klug umgekrempelt und so für die moderne Bühne gebändigt. Den mittleren 4. Akt ganz weglassend, zäumen sie es zugleich von hinten und von vorne auf, um auf das «Gyntsche Ich», dieses widersprüchliche «Heer von Wünschen, Lüsten und Begehr», zu fokussieren. Entsprechend ist die Titelrolle dreifach besetzt - mit dem coolen Hans-Caspar Gattiker, dem listig naiven Hajo Tuschy und dem ungebärdigen Jürg Wisbach. Ihr Spiel ist beschränkt auf einen salonartigen Innenraum, den Vytautas Narbutus mit einer pittoresken Fülle von Möbeln, Bildern, Büchern, Koffern und allerlei Trödel ausgestattet hat, die signalisieren, dass hier schon bessere Zeiten geherrscht haben. Hierin gefangen, wird Peer Gynts Frage «Wer bin ich?» zur mal belustigenden, mal quälenden Selbstbefragung eines Individuums, das sich vor der Antwort in allerlei Lügen und Truggebilde flüchtet. Für den jugendlichen Gynt findet Hajo Tuschy eine überzeugende Balance zwischen Staunen und Tücke. Die Frauen liegen ihm zu Füßen, auch wenn seine Hosen löchrig sind. Doch Verrat und Enttäuschung folgen jeweils auf dem Fuß, und das geht nicht immer gut. Peer Gynts Schelmereien inszeniert Arnarsson in einer Mischung aus Pathos und Gelächter, Wortwitz und historisierender Distanz - wofür die Diktion in der deutschen Übersetzung das ihre beiträgt. Die nottuende, tüchtige Straffung des Stücks eröffnet obendrein Freiräume für musikalische Einlagen und für Sprachspielereien. Daraus resultiert schließlich ein breites Repertoire an Stimmungen, die zwischen parodistischer Komik, lauter Theatralik und berührender Intimität oszillieren. Die ab und an überspielte Theatralik fällt gegenüber den feineren Tönen spürbar ab. Eine rührende Szene, der Tod der Mutter, beendet den ersten Teil und entlässt die Zuschauer in die Pause. In den Pausen wird ein anderes Stück gespielt - in diesem Fall mischt sich in die Comédie humaine an der Theaterbar die öffentliche Vorstellung einer neuen Partei: der «Peer Gynt Partei» zur Veränderung der Welt. In einem Interview vorab äußerte Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson, dass er unbedingt eine «aktuelle politische Dimension ins Stück bringen» wollte. Die Pausenrede Peer Gynts (gehalten von Hajo Tuschy) appellierte leidenschaftlich ans bürgerliche Theaterpublikum, den «demokratischen Kapitalismus» nicht zur «kapitalistischen Demokratie» verkommen zu lassen. Durchkreuzt wurde dieser Appell allerdings von den eindringlichen Aufrufen, dass die Pause zu beenden sei. So entstand eine Irritation zwischen Neugierde und Besuchergehorsam. Hinsichtlich der politischen Rhetorik bleibt die Pausen-Intervention allerdings zahm. Der Luzerner «Peer Gynt» setzt seine politischen Stacheln unterschwellig und fein dosiert. Dafür benötigt Arnarsson den vierten Akt gar nicht, worin Gynt sich als erfolgreicher Handelsmann und danach als Bankrotteur erweist. Sei dir selbst genug, dann bist du erfolgreich, verkünden ja auch die Trolle (aka Gnome). Der zweite Teil des Abends konzentriert sich auf Peer Gynts Heimkehr - nun mit Jürg Wisbach in der Hauptrolle. Er wird vom «Knopfgiesser» verfolgt - eine der hinreißendsten Schöpfungen in diesem Stück. Dieser fordert Beweise dafür, dass Gynt «ich selbst war alle meine Tage». Ich selbst? - mit dieser Forderung beginnt die Vorstellung allmählich aus dem Ruder zu laufen. Waren zuvor schon diskrete Verfremdungseffekte eingestreut, bricht das Stück nun inmitten einer lauten Verzweiflungstirade auseinander - und Jürg Wisbach erzählt unvermittelt eine ganz persönliche Geschichte: seine Flucht aus der DDR 1987. Solche Einschübe schaffen eine Intimität, die nachdrücklich haften bleibt. Trotzdem glückt der Schlussteil nicht restlos. Es mangelt ihm stellenweise an Intensität und Kompaktheit - wie schon der allzu langatmigen Trollenszene im ersten Teil. Mit dazu bei trägt auch die fehlende Trennschärfe zwischen gespieltem Stück und Spiel im Spiel. Die Emotionen verwischen sich. Die Irritation, mit der Thorleifur Örn Arnarsson und sein Team die Zuschauer entlassen, rührt letztlich aber nicht daher. Ihre lebhafte Inszenierung weckt insgeheim unheimlichere Fragen. Stecken wir nicht alle als Folge der nachwirkenden Hybris aus Phantasterei und Geldgier in einem von Zerfall bedrohten Salon fest und fragen uns, ob wir wirklich wir selbst geblieben sind.