Roaring Twenties oder Riesen, Roboter und aber auch eine Revue

Kleintheater Luzern, 19./21./22.9.2018: Es handelt sich gemäss Selbstdeklaration um ein grössenwahnsinniges Unternehmen. Zwei Theatertruppen in zwei Städten und insgesamt gut und gerne 80 Personen sind beteiligt am Dreifachprojekt «Tryptichon». Dreimal gibt’s das im Luzerner Kleintheater, wo man hingehen müsste. Sonst selber schuld. Kulturteil hat zwecks hier erfolgender Vorberichterstattung Ende August im fernen Bern die Premiere im Tojo Theater in der Reitschule besucht. 

Fotos: Rob Lewis Photography
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VORBILD
Es wird wieder auf dem Vulkan getanzt, das Ende naht, eine Katastrophe könnte kommen. Und bald sind wieder 20er, gloriose, wilde, güldene (aka «roaring»). In zwei Jahren im neuen Jahrhundert wäre es soweit. Demnächst bereits am Fernsehen: Vor «Babylon Berlin» kann man aber noch ins Theater gehen, müsste man unbedingt dahin. Es geht um die luzernisch-bernische Kooperation und Koproduktion «Tryptichon» der bewährten Institutionen Fetter Vetter (LZ: «Fetter Fetter») & Oma Hommage (LU) und Faust Gottes (BE). Beim transurbanen Projekt profitiert das geneigte Publikum von einem Aktionsangebot, der Name «Tryptichon» sagt es schon, 3 für 1: Ein theatrales Dreibild, drei lohnenswerte Stunden in der Länge (inklusive 2 Rauchpausen), prallvoll mit Sprache, Spiel, Musik, Tanz und Gesang, Farben, Bühnenbildern, Gewändern und Geleuchte. Gestemmt von einem veritablen Riesenensemble unzähliger Beteiligter in Crew & Cast, hinter der Bühne, auf der Bühne, im kreativ-produktionellen Sparten, in der Schauspieltruppe, im Doppel-Chor, im Orchester. Allein im sichtbaren Bereich sind da an die 60 Personen zugange. Vernünftig betrachtet, hat sich hier ein kollektiver nackter (Grössen-)Wahnsinn zum Guten ausgebreitet (denn bekanntlich darf die pure Vernunft niemals siegen).

EINBILD oder Ein Formenspiel
Man kann es auch etwas grosszügig sehen und nicht so kleinlich sein, wenn das Veröffentlichungsjahr 1912 von Wassily Kandinskys Bühnenkomoposition «Der gelbe Klang» (im Almanach «Der Blaue Reiter», erstmals aufgeführt allerdings erst in den 1970ern) unter «Zwanziger» subsumiert wird. Sei’s drum. Theaterabend-Conférencieuse Madame Désirée erklärt’s entsprechend mit charmanter Verschmitztheit.

Ein Solo ertönt, ein Tenor zu Cellobegleitung, bald hört man den Chor. So fängts im Original an: «Im Orchester einige unbestimmte Akkorde. Auf der Bühne dunkelblaue Dämmerung, die erst weisslich ist und später intensiv dunkelblau wird. Nach einer Zeit wird in der Mitte ein kleines Licht sichtbar, welches mit der Vertiefung der Farbe heller wird. Nach einer Zeit Orchestermusik. Pause». Riesen treten auf.

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Gelblich: Vier Riesen

«Der gelbe Klang» markiert Kandinskys Weg von der gegenständlichen zur ungegenständlichen (aka abstrakten) Kunst, in einem «Gesamtkunstwerk», das auf Handlung eigentlich verzichtet. Es ist ein pures Formenspiel, wo die Form Inhalt wird, eine abstrakte Synthese der Künste Musik, Farbe, Bewegung/Tanz. Sprech- bzw. Singtext besitzt Kandinsksys «Bühnenkomposition» praktisch keinen, sein Stück besteht aus Regieanweisungen, Beschreibungen: «Von links erscheinen viele Menschen, in verschiedenfarbige Trikots gekleidet. Die Haare sind mit entsprechender Farbe verdeckt.» Oder so: «Plötzlich verschwinden alle Farben (die Riesen bleiben gelb) und ein weisses dämmeriges Licht erfüllt die Bühne. Im Orchester fangen einzelne Farben an zu sprechen.» Schliesslich: «Es entsteht ein allgemeiner Tanz.» In unserem Fall heisst das, dass am Ende alle, Darsteller*innen, Chor, Beleuchter*innen, Orchester, tanzen. Das Beleuchtungsteam hat man schon gesehen, denn es wird mit Live-Licht gearbeitet, was bedeutet: Man arbeitet coram publico, wie die Lateinlehrer sagen – sichtbar-unversteckt auf der Bühne, alles eben ambulant ins rechte Licht rückend. Gelbliches und anderes.

ZWEIBILD oder Wir sind die Roboter
Ist glaub von Brecht, dass der Fortschritt der Menschheit in ein Fortschreiten von der Menschheit kippen kann, was zu vermeiden ist. Ein Thema, das sich das Stück «R.U.R.» vornimmt. Das ist jetzt richtig 1920er: Uraufgeführt in Prag am 25.1.1921. Autor: Karel Čapek (1890–1938). Der Stücktitel ist eigentlich englisch, voll ausgeschrieben: «Rossum’s Universal Robots». «Rossum» seinerseits spielt an auf das tschechische «rozum» (Verstand), und der heute gebräuchliche Begriff Roboter stammt von hier («robota» = Arbeit). «R.U.R.» spielt in den USA, wo eine Fabrik humanoide künstliche Wesen herstellt, die den Menschen die Arbeit abnehmen sollen. Will heissen: Das Ziel ist eine arbeitsfreie Gesellschaft (immer Ferien). Doch wie es so geht: Den Robotern werden menschliche Spurenelemente beigegeben, sie entwickeln Gefühle. Es geht soweit, bis der Mensch an und für sich überflüssig werden wird, mit allen Konsequenzen. Es kommt zum Aufstand (der Roboter), die täuschend menschlich geworden sind (sie können rauchen!). Das Paradies, so heisst es einmal, ist ein «vermaledeites». Das Gebet hat nichts genützt: «Und befreie uns von den Robotern. Amen.» Das historische «Kollektivdrama» war einst Science-Fiction. Was ist es heute?
PS: Für Stubenhocker*innen gibt’s das Hörspiel aus den 1970ern hier.

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Echte Menschen und künstliche Menschliche

DREIBILD oder Hoch das Bein!
In der dritten Abteilung wird’s bunt-bewegt mit viel Musik, Tanz und Gesang. Es handelt sich um die finale Krisenrevue. Die Welt befindet sich in Champagnerlaune, man macht Party, als gäbs kein Morgen, es geht mit Karacho Richtung Katastrophe – Nach uns die Sintflut (auf Ausländisch: Après nous le déluge). «Das ist Atlantis, Baby!» Showtime!

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Es darf getanzt werden: The Tiller Girls

Im Orchester wird Bier getrunken. Chefkoch HMB braut ein braunes Süppchen und gibt damit «arischen Einblick in die Kulinarik». Der Dirigent demonstriert einen faulen Zauber. Brechts «Mackie Messer» aus der «Dreigroschenoper» (1928) darf nur kurz angesungen werden, weil sie die Rechte nicht haben. Die gemischtgeschlechtlichen Tiller Girls operieren nach der Devise «Hoch das Bein!». Käthe Kabeljau kommt per Hover-Board herangeschwebt, um «Das Urgebet einer Meerjungfrau» zum Besten zu geben. Das Pelz tragende Staatsballett «der nicht mehr ganz so autonomen Republik Krim» gibt Irvin Berlins «Puttin’ On The Ritz» (wer hört da ein «Putin» heraus?). Dragqueen Brigitte Boudoir mit üppigem Kunstgesäss wagt sich lasziv an Charles Aznavours «Du lässt dich geh’n» («Tu te laisse aller», 1962).

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In Aktion: Dragqueen Brigitte Boudoir

Einmal ist da in der Moderation von «hasserfüllten alten Säcken» die Rede. Wer da wohl gemeint sein könnte?

Es geht weiter mit Genesis-Geschrei von einem angeblichen Kirchenchor aus Zweisimmen, dessen sensibler Bibeltext-Vortrag den Herrn Dirigenten prompt zum Pamir greifen lässt.

Im berührenden Schlussbild stehen Herren mit Schwimmwesten aufrecht im knallorangen Gummiboot, um darin von den Comedian Harmonists 1932 bekannt Gemachtes mehrstimmig zu intonieren: ein gesungenes Untergangsszenario zum Titel «Auf Wiedersehn, My Dear» – «gib mir den letzten Abschiedskuss». Gute Nacht, du falsche Welt.

NACHBILD oder Hingehen!
Je nach abendlichem Konditionszustand könnte es streng werden mit den drei Stunden, die alles dauert. Doch die etwaige Sitzleder-Mühe lohnt sich einmal mehr und allemal. Ein retro-avantgardistischer Theatergenussspass ist garantiert. Es geht in der Zeit zurück, lässt auf die Gegenwart blicken und in die Zukunft hoffen.

Fetter Vetter & Oma Hommage/Faust Gottes: Tryptichon«Der gelbe Klang» – «R.U.R.» – «Krisenrevue»
Mi, 19., Fr/Sa, 21./22. September, 20.00, Kleintheater Luzern

Regie: Sandro Griesser, Damiàn Dlaboha, Christof Bühler, Nadja Bietenhader. Regieassistenz: Gilda Laneve. Dramaturgie: Béla Rothenbühler, Barbara Boss. Musikalische Leitung, Komposition: Moritz Achermann. Szenografie: Elke Mulders. Bühnenbau: Christof Bühler. Kostüme: Senta Amacker. Kostümassistenz: Svetlana Markovič, Geraldine Diem. Choreografie: Niki Stalder. Technische Leitung: Lola Rosarot. Grafik/Fotos: Cyril Nusko. Produktionsleitung: Barbara Boss, Christof Bühler. 

Schauspiel: Annick Herren, Benjamin Barmettler, Christine Glauser, David Inauen, Désirée Akwamoa, Elias Barmettler, Jonas Luginbühl, Jonathan Fiebig, Jules Claude Gisler, Rafael Gil, Riccardo Legena, Sandro Niederberger, Sonja Barmettler. 
Chor: Laltracosa, Suppléments musicaux. 
Sologesang, Rezitation: Manuel Pollinger. 
Orchester: Campo fiorente

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