Proben ist überschätzt

Südpol, 14.5.2015: Die Wüste lebt und das Universum verfolgt gnadenlos seinen eigenen undurchschaubaren Plan. Zwei Erkenntnisse von vielen möglichen, die man aus dem Giant-Sand-Konzert ziehen konnte. Dann noch das Musikalische. Und vor allem das Fotografische. Dazu weiterlesen.

Tja, der Jetlag. Drei vor wenigen Stunden direkt aus Tuscon, Arizona, eingeflogen, 2 aus Skandinavien, 1 aus Zagreb, Kroatien. Alle zusammen treffen sich zum Tourstart im Südpol ein allererstes Mal. Proben mussten sie nicht?, fragt sich männiglich. Iwo! Proben ist überschätzt, so Mastermind Howe (sprich «hau») Gelb in einer seiner scherzhaften Konzertmoderationen. Proben sei gar Bschiss («cheating»), unaufrichtig. In dieser Logik kann er dann auch getrost behaupten: «Mit jedem Fehler, den wir auf der Bühne machen, vergrössert sich die Wahrheit.» So ehrlich geht es entsprechend zu und her im Südpol-Club. Spürbar.

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Musikalisch, eben dem Nicht-Proben geschuldet, ist’s, wenigstens zu Beginn, eine delikate Angelegenheit. Man fürchtet lange, dass es ins Peinliche kippen könnte, so faserig, zerfahren und rumpelig wird da an die Songs herangetastet, nachdem sich Howe Gelb vom Flügel nach vorne ans Gesangsmikrofon begeben hat, um stimmlich und gitarristisch weiterzumachen. Eine andere Gitarre ist auch noch da, dazu die Pedal-Steel von Maggie Björklund, der skandinavische Bass, eine weibliche kroatische Gelegenheitsstimme und das Schlagzeug. Drei haben das Vorprogramm bestritten mit eigenen Songs. Es sind Maggie Björklund an der Pedal-Steel-Gitarre, Brian Lopez (Gitarre, Gesang) und Gabriel Sullivan (Gitarre, Gesang). Lopez spielt auch noch auf dem Flügel («Wenn ein Flügel auf der Bühne steht, muss man ihn spielen.»). Sie fühlten sich etwas unwohl, weil sie die akustischen Gitarren vergessen haben, mit denen Lopez und Sullivan eigentlich auftreten wollten. Björklund bleibt im Anschluss sitzen, Lopez ist dann der Giant-Sand-Gitarrist, und Sullivan wechselt fürs Hauptprogramm von der Gitarre ans Schlagzeug. Eröffnet wird vom Meister am Flügel. Wieder ein Scherz: Das nächste Stück sei in b flat (also in C die verminderte Septime = B), falls jemand im Publikum mit einer Mundharmonika mitmachen möchte. Auch intern gibt er mal eine Tonart an, damit’s stimmt. «We’re collecting», sagt Howe, langsam fänden sie zusammen, auch jeder und jede einzelne für sich (und zu sich?). Gesanglich das Erwartbare, tief und authentisch zwar, aber halt schon an loureedschen Falschgesang und leonardcohensches Gebrummel gemahnend. Gespielt wird Material des neuen Album «Hearbreak Pass», ich erkenne unter anderem die Titel «Gypsy Candle» und «Heaventually». Und jetzt kommt’s. Im Vorfeld wird wacker gerätselt, was das Motiv des Plattencovers betrifft. Da wird behauptet, das sei doch die Noch-Wagenburg direkt neben dem Südpol im Hintergrund des Gruppenfotos. Ein Scherz? Aber nein, keineswegs. Howe Gelb setzt den Spekulationen definitiv ein Ende. Sie hätten selber nicht gedacht, dass das beim letzten Luzern-Gastspiel (also im August 2012) aufgenommene Bild dereinst, nämlich jetzt, zum Plattencover wird. Ist aber wirklich wahr! Schaut selbst:

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Die unergründlichen Gesetze des Universums haben also bewirkt, dass Giant Sand das erste Konzert mit dem Material der neuen Platte «Heartbreak Pass» eben dort starten, wo das Foto zum Cover gemacht wurde. Was das bedeuten mag? Überhaupt die Rückkehr. Howe Gelb: «Ich stamme ursprünglich aus Luzern.» Fürwahr, allerdings handelt es sich um Luzerne County, Pennsylvania. Da kommt Howe her, bevor er sich selber in die Wüste schickte, um fortan von Tuscon, Arizona aus in Sachen Alt-Country aktiv zu werden. Und immer wieder mal nach Luzern, Switzerland, zurückzukehren. Eine Ehre irgendwie, dass er es jetzt mit Band tut zum Auftakt der Jubiläumstour. 30 Jahre nämlich ist es her seit dem ersten Giant-Sand-Album «Valley Of Rain». Arithmetisch etwas abstrus heisst das Bandprojekt aktuell Giant 3 Sand. Solo, d.h. unter seinem Namen mit oder ohne Begleitband, war er schon wiederholt hier, ebenso Giant Sand: im letzten Boa-Jahr 2007, in der Jazzkantine, im Treibhaus, im Südpol einen Stock höher. Man könnte sagen: Howe Gelb, der kosmopolitsch unterwegs seiende Mann aus Arizona, ist luzernmässig so etwas wie ein Habitué. Im Südpol sagt er es selber wieder, dass es sich wie Heimkommen anfühlt. Durch den Regen werden Giant Sand per Nightliner unter der Obhut von Chauffeur Klaus weiterziehen. Auch wir ziehen weiter, im Regen heimwärts radelnd. «Weird, even for Tuscon», sagt die 12-jährige Jodie Foster in Martin Scorseses viertem Film «Alice Doesn’t Live Here Anymore» (1974).