Peter von Matt bereitet sein Kalb zu

21. März im Haus der Gesellschaft der Herren zu Schützen: Im Anschluss an die Gründung der Literaturgesellschaft Luzern führte Hardy Ruoss ein Podiumsgespräch mit dem Ehrengast Peter von Matt. Der bekannte Germanist und Gewinner des Schweizer Buchpreises 2012 sprach über die Modellhaftigkeit von Literatur für die heutige Schweiz – und vergass darüber zuweilen, dass er auch Wissenschaftler wäre.

Als «Filetstück» des Abends kündigte Peter Schulz, Leiter der neuen Literaturgesellschaft Luzern, den Auftritt seiner beiden Gesprächsteilnehmer an. Ein Filetstück vom «Kalb», so könnte man Schulz präzisieren, wurde hier aufgetischt. Denn von Matts neuster Essayband heisst: «Das Kalb vor der Gotthardpost». Dem literarischen «Chef» zur Seite gestellt wurde der «Feinschmecker» Hardy Ruoss, seines Zeichens langjähriger Literaturkritiker der NZZ, ehemaliger Kulturredaktor von DRS 2 und Dozent an der Journalistenschule MAZ. Man durfte ein anspruchsvolles und unterhaltsames Gespräch über Literatur erwarten.

Der Kochtopf Unterhaltsam waren die folgenden zwei Stunden allemal. Die beiden führten durch das erste und längste Essay mit dem Titel «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation». Bereits auf Ruoss’ erste Frage, inwiefern der Essay auch eine literarische Qualität habe, fiel die Antwort von Matts sehr generalisierend aus – ein Eindruck, der sich fortsetzen sollte. Schnell hatte von Matt Abhandlung, Biografie und Tagebuch in einen (Koch-)Topf geworfen und meinte, all diese nicht-fiktionalen, essayistischen Genres zeugten zuweilen von Literarizität. Ein derart erweiterter Essay-Begriff mochte das Publikum nicht stören. Schliesslich sieht es von Matt als seine Aufgabe an, Literatur einer grossen Masse zu vermitteln und dazu sind Vereinfachungen unerlässlich. Man kann ihm zustimmen, wenn er meint, dass die «Satzkonstruktion bei Jean Paul» das Publikumsinteresse nicht wecken wird. Doch auch über generelle Themen – und was gibt es Generelleres als Gattungstheorie? – lässt sich präzise sprechen.

Die grosse Kelle Beim Vorlesen aus seinem Text gewann der Germanist zum Glück wieder Boden unter den Füssen. Sein Schreiben ist von eindrücklicher Suggestivkraft, er rührt mit der grossen Kelle an, wenn er von der prekären Situation im bekannten Bild «Die Gotthardpost» auf die gesellschaftliche Krise der 1870er-Jahre schliesst. Wenn er den grossen Bogen von den schweizerischen Söldnern im Mittelalter zu den grossen Reisenden Friedrich Glauser und Max Frisch zieht. Wenn er den schweizerischen Tourismus auf Albrecht von Hallers Gedicht «Die Alpen» zurückführt. Problematisch sind von Matts Argumentationen immer dann, wenn man sie genauer unter die Lupe nimmt. Kann man aus Krisenbeschreibungen des 19. Jahrhunderts wirklich auf die heutige Schweiz schliessen? Bei aller Weisheit, die z.B. in Jacob Burckhardts Kulturanalyse steckt – sie ist heute nicht mehr zeitgemäss und nur im Kontext seiner Epoche wirklich begreifbar.

Das Filet, zugeschnitten Von Matts sehr genereller Befund zur Schweizer Literatur von Gotthelf bis Dürrenmatt ist: Dass der Mensch grundsätzlich gespalten sei durch seine Sehnsucht nach dem Idyll und seiner Hoffnung in den Fortschritt. Das sind Binsenwahrheiten und sie werden nicht besser, wenn sie als Alleinstellungsmerkmale auf die «Seelengeschichte einer Nation» projiziert werden. Von Matts Ringen um die Schweizer Identität scheint den heutigen politischen Diskursen und nicht der analysierten Literatur geschuldet. Damit droht Literatur zum Instrument der Prophetie zu werden und ihr eigenständiger Wert tritt in den Hintergrund: Das Kalb wird so lange zugeschnitten, bis es in die Pfanne passt. Womöglich unterscheidet den ernsthaften Wissenschaftler vom gewieften Essayisten, dass der erste seinen Text, der andere seine eigene Zeit zu verstehen versucht. Schade, dass von Matt nicht beides schafft. Anregend sind seine Gedanken allemal; obwohl oder gerade, weil sie Widerspruch provozieren.