Nora modulable oder: Die nullte Wand

Luzerner Theater, 18.01.2017: Die Theaterbox öffnet ihre Klappen für eine gruppentherapeutische Betrachtung eines der bekanntesten Dramen des Naturalismus. Henrik Ibsens 1879 erschienenes Werk «Nora oder Ein Puppenheim» (im norwegischen Original nur «Ein Puppenheim») wurde in 138 Jahren vielfach und den Zeitläuften folgend adaptiert. Der niederländische Regisseur Bram Jansen entwickelte mit dem Ensemble des Luzerner Theaters eine spezielle Versuchsanordnung, in der die Wände des Puppenhauses nur noch im Kopf bestehen: «What about Nora?» – Nora is in the house. Also, in the box. (Fotos: Ingo Höhn)

Wer die Wände weglässt, kann keine Tür mehr zuschlagen. Diese kommt gleich zu Beginn – nach der freundlichen, doch fast überflüssigen Rezitation der letzten Dramenseite durch Nora und einen stimmsicheren Herrn aus dem Publikum – als Theaterdonner vom Band und hallt lange nach. Damit ist schon viel verraten: Oft wird die Tür im Laufe des nicht all zu langen Abends noch ins Schloss fallen, manchmal sehr illustrativ und vorhersehbar, sehr selten nur von der Frage gefolgt, auf welcher ihrer Seites sich Nora, die perfekte Gattin des strebsam glänzenden Rechtsanwalts Torvald, nun eigentlich befindet. Die Geschichte ist hinreichend bekannt: Die gemütlich-geschmackvolle Lebenskulisse der bürgerlichen Vorzeigefamilie Helmer wird durch das Ausspielen eines lange zurückliegenden, gesellschaftlich nicht akzeptablen Vorfalls durch den Freundes- und Bekanntenkreis in den Grundfesten erschüttert. Torvalds geliebtes «Eichkätzchen» Nora, die sich ihrem Mann gegenüber als patent, treu und lebensrettend erwiesen hatte, erkennt ihren familiären Burnout und wirft ihren Freiheitsdrang, die Lebenslust und die letztendliche Ablehnung der ehernen Prinzipien des Gatten in die Waagschale, bis sie endlich die Tür erreicht, durch die sie ihn und ihre drei Kinder verlässt. Seitdem auch diese bis heute markante, einst Theatergeschichte schreibende Schlussszene ab 1880 gespielt werden durfte, wird jeweils auf der Höhe der Zeit diskutiert, ob der Fokus allein auf der Emanzipation liegt oder auf einem universellen Ausbruch aus dem Puppenheim, bei dem die gesellschaftlichen und persönlichen Konsequenzen für Mann und Frau freilich nach wie vor verschieden sind.

Die Welt ist eine Scheibe

Bram Jansen lässt seine experimentelle Verwertung des Dramenmaterials dort beginnen, wo die Vorlage endet. Die Zuschauer sitzen an den Längswänden der Box und zudem in der Mitte in einem grossen Kreis, in dem sich auch die Darsteller für ihren Einsatz parat halten. Die Bühne ist wand- und schrankenlos mit der Welt verbunden; nicht nur die «vierte Wand» – als theatralische Errungenschaft und psychologisches Element des realitätsnahen Naturalismus eingeführt – wurde eingerissen, sondern alle anderen gleich mit: Das Innerste wird räumlich wie psychologisch nach aussen gekehrt. Der Raum des Stückes wird zur Scheibe, wie die Welt, die idealerweise durch «uns alle», durch jeweils Agierende und die Zuschauerschaft, in der Balance gehalten werden müsste, damit wir nicht über den Rand ins lebens- oder darstellungsfreie Nichts abrutschen. Die Darsteller, von Ibsen in ihren Schicksalen eng miteinander verwoben und hier allesamt auf Augenhöhe von Nora gebracht, schicken sich nun gegenseitig ins Spiel dieser Sitzung und versuchen, der Situation des Verlassens und Verlassenwerdens per Befragung, Analyse und Familienaufstellung auf den Grund zu kommen. Noch markanter als die den Abend offensiv eröffnende Nora ist hier gleich zu Beginn Gatte Torvald positioniert, dessen Einsamkeit, Verlorenheit und Konventionalität schon zur Zeit seines Eheglücks die goldenen Stäbe für den Käfig seiner Frau darstellten.

Noras Kinder: Selfies mit Ibsen

Aber eben: What about Nora? Jansen weist uns selbst als Umsitzende, als Sitzungsteilnehmer, eine Rolle zu, die meist ausgelassen wird: die der Kinder. Ibsens Drama gehört aus gutem Grund zu den meistgespielten Stücken der Welt, weil es eine nie unmodern werdende Spiegelung gewagt verkehrt. So viele ikonische Noras kennen wir vermutlich im eigenen Leben nicht, wohingegen uns zum Aufzählen derer, die das Puppenheim und uns selbst eben nicht verliessen, ausreichend Finger an den Händen fehlen. Und so pflanzen sich die Duldungsstarre, das Käfigbauen, das Vereinsamen im Schosse der Gemütlichkeit durch die Generationen der Aufklärung und Moderne und des ganzen popkulturellen Komplexes hindurch immer weiter fort – bis in die selbstoptimierte Gegenwart. Nora geht, falls sie denn wirklich geht, doch nur wenige der Bleibenden halten «Gerichtstag über das eigene Ich», wie der Autor in einem Gedicht fordert. Und im heutigen postemanzipatorischen backlash, in dem die Ausstattung der Wohnkulturen mit fast wilhelminisch anmutender Bürgerlichkeit neue Hochkonjunktur feiert, beanspruchen die meisten in Beruf, Management und Politik erfolgreichen Frauen auch nur das Recht, ihrerseits zu Arschlöchern und darin den Männern vergleichbar zu werden, während jene wie eh und je in den realen oder digitalen Beizen hocken und sich sprachurinierend über Genderfragen und das generell Überflüssige irgendeiner Gerechtigkeit auslassen. Wirkliche Befreiungen liegen weiterhin fern und in Zeiten des global präsidialen Pussygrabbing ziehen sich die generelle Hoffnung und die individuellen Anstrengungen im Alltag in ihre Schneckenhäuser oder Puppenheime zurück.

Bruder Klaus und Schwester Nora

Zurück in die Box: Da sitzen wir nun im Rund und hoffen, nicht von den Akteuren rangenommen und aufgestellt zu werden. Ab und zu wird aus Reclamheftchen gelesen; die Forderungen an uns, an Noras Kinder, sind jedoch rein symbolisch und distanziert. Das Stück agiert im gesamten Raum, übersetzt seine Literaturgeschichtlichkeit konsequent ins Thema des Modularen und lässt zuweilen sogar «method acting» befürchten. Aber die wirklichen privaten Momente bleiben aus. Auch die Schubumkehr der Beobachtung des Publikums durch die Akteure findet nur angedeutet statt. Glück gehabt? Das Experiment einer tiefergehenden Vertauschung von Bühne und Zuschauerraum wäre für die Luzerner Abonnenten vermutlich zu weit gegangen. Am Ende hätten wir auch das bildungsbürgerlich wertvolle dramaturgische Material verloren und wären allzu selbstreferenziell geworden, mit der Übertragung von Lee Strasbergs bekanntem Satz über die Arbeitsbedingungen und die Kunst der Schauspieler (aus «Der Schauspieler und er selbst», 1965) auf das Publikum: «Die Arbeitsbedingungen des Zuschauers erfordern, dass er im voraus weiß, was er tun wird, während die Kunst des Zuschauers es erfordert, dass es so aussieht, als wisse er das nicht.» Aber es blieb alles in Ordnung; die Wände blieben unsichtbar vorhanden und die Puppenbox wurde nicht gesprengt.

Auf dem Weg zum Theater verkündete der Newsscreen im Bus das Erscheinen einer dritten Sondermarke zu Niklaus von der Flüe, der seine Gefährtin und Kinder kurzerhand verliess, um sich national und esoterisch nachhaltig zu verwirklichen. Soweit dem Nichtphilatelisten eine wirkliche Recherche möglich war, gelingt der Nachweis einer Sondermarke zu Nora nicht. Und so ist und bleibt jede Befreiung aus den Käfigen des naturalistischen Bürgerzoos vorerst das, was sie bereits war: Sehnsuchtsstudie und Erfolgsdrama, Projektion und Therapieversuch, Strasberg reflux, Bändigung der Alt- wie der Neugier, Dschungelcamp für Eingeweihte, ein Türenschlagen, das die Kinder und Männer kaum zu erziehen vermag – und ganz einfach: Theater. Das aber war es tatsächlich, ein Abend, den die Besucher trotz einer gewissen Lösungslosigkeit nicht bereuen sollten. Denn das Zuschauen macht Vergnügen, das Ensemble (Christian Baus, Nina Langensand, Verena Lercher, Lorenz Nufer, Mirza Šakić) spielt bindend und die Inszenierung (Regie: Bram Jansen, Dramaturgie: Julia Reichert, Bühne und Kostüme: Sophie Krayer, Musik: Jorg Schellenkens) ist durchlässig genug, um uns Sitzungsteilnehmer immer wieder zu einem Eistanz der Gedanken ins grosse Rund abgleiten zu lassen, um also nachzudenken über Nora, Mutter und Vater, die eigene Starrheit und jene unserer feudalen, in komfortabler Konformität erstarrten Welt. Was kann man mehr wollen? Ja, doch, dieses: Am Ende von Verena Lercher – auch wenn Nora Marionette bleibt – durch eine wunderbar energische, suffragettische, humoristische, fast artistische Technotarantella aus den Gedanken gerissen zu werden, bevor die letzte Tür zuschlägt und die Box sich öffnet und uns in die eigenen Puppenheime entlässt. Ladies and Gentlemen, Mrs. Helmer has left the building.

Weitere Termine: 20., 22. und 25. Januar, 2., 8., 9., 11. und 12. Februar. Informationen: www.luzernertheater.ch