Nō Brain Helfenstein

Südpol, 19.11.2016: Musik für's Hirn (japanisch Nō) aus Japan und den USA, das schenkt Remo Helfenstein zum Abschied Luzern. Und dies gleich mit einem Festival, wie es das Schaffen des scheidenden Südpol-Musikchefs besser nicht abbilden könnte. Provokativ, spannend, grandios: Helfenstein sorgt für das Highlight im Herbst.

Seit dem Saisonstart im September ist die Konzertauswahl in Luzern auf einem neuen Höchstwert angelangt. Obwohl die Zuhörerzahlen nicht speziell rosig scheinen, finden in der ganzen Stadt Gigs statt, nicht zuletzt dank Veranstaltern wie der Boa im Exil, dem Mullbau oder dem B-Sides sowie neu ausgebauten Konzertorten, sprich dem Neubad-Keller – nebst den «traditionellen Orten» selbstverständlich. Erfreulich ist, dass viele dieser Konzerte absolut hochstehend sind und man oftmals zwischen mehreren Orten gleichzeitig zu pendeln versucht. Ärgerlich hingegen, wenn dann halt doch einer dieser Edelauftritte verpasst wird, wie beispielsweise, wenn Leech und Tortoise beide am gleichen Abend in der Schüür respektive im Südpol spielen. su%cc%88dpol2 Letzterer hatte schon immer seine Schmankerl zu bieten, doch mit dem Antritt von Remo Helfenstein bekam das Programm eine weitere Konzentration an Qualität. Gerade für Avantgarde-Anhänger gab es reichlich Appetitanreger seit seines Amtsantritts vor rund zweieinhalb Jahren. Höhepunkte waren Konzerte des Punk-Jazz-Trio ZS, Michael Fehr & Manuel Troller feat. Julian Sartorius & Andi Schnellmann, die Konzertreihen Joyful Noise In The Dark  und Heile Heile Säge oder das gerade stattgefundene, grandiose Grossprojekt «144 Strings for a Broken Chord» von Christy Doran mitsamt 19 weiteren Gitarrist_innen, vier Bassist_innen und einem Schlagzeuger. Die Liste könnte endlos weitergeführt werden; so holte der Luzerner zuletzt das populäre Hip-Hop-Jazz-Trio BADBADNOTGOOD oder Sophie Hunger in den Südpol-Saal und gab stets einheimischen Bands Spots zum Bespielen. Gar kam es so weit, dass die Boa im Exil den historischen ersten Südpol-Besuch unternahm. Ohnehin kann man von einer Ära sprechen, zu der neben Helfenstein die herrlich agierende Technikcrew um Felix Lisske gehört, die souverän organisierte Bar der Sabrina Marty sowie natürlich die Kassencrew. Und wer erinnert sich nicht an das schon fast legendäre Duo Remo Helfenstein feat. Olivier Vogel, welches jeder Veranstaltung einen zusätzlichen Touch gab? Elemente, die einen Konzertabend seinen Charakter verleihen, wichtige Zahnrädchen einer Maschine, welche den Besuch einer Location einzigartig machen. higgins Alle diese Faktoren kamen am vergangenen Samstag noch einmal zusammen. Am Nō Brain Festival machte Helfenstein sich und Luzern ein Geschenk in Form von richtig richtig richtig guter Musik. Eröffnet wurde von ZS-Gitarrist Patrick Higgins. Mit einem unglaublich ausgeklügelten, eigens für ihn angefertigtem Computersystem verband der Amerikaner seine Two-Hand-Tapping-Linien mit MIDI-Signalen. Aus klassischen Stratocasterklängen wurden Metallgeräusche, Super-Ego-Freeze-Drones wechselten sich mit regentropfenartigen Patterns ab. Würde Lichterüberflutung einen Soundtrack brauchen, sollte Higgins dafür verantwortlich sein. Popol Vuh's Score zu «Aguirre» auf Speed war das – grosses Ohrenkino. War das Publikum hierbei noch zwischen neugierig und fasziniert, so sollte es beim nachfolgenden Act in Ekstase verfallen. Das japanische Quartett Goat (nicht zu verwechseln mit den Psychedelik-Schweden) verflechtete die Überlagerungen zu einem tranceartigen Präzisionshandwerk. Unglaublich, was die Japaner aus ihren Instrumenten – Saxofon (mitsamt PET-Flasche im Becher), Gitarre, E-Bass, Schlagzeug – herausholten. Das war Genauigkeit und Rhythmuswahn auf Level «Heller Wahnsinn». Als Abwechslung ein Noisepart mit Octatrack und Ableton, dann wieder ab ihn den Minimal-Patternreigen: WOW! img_4163 Standen die Japaner an diesem Abend sinnbildlich für präzise geschmiedeten Stahl, so könnten die Amerikaner Horse Lords für das Ausgangselement Erde stehen. Ein Rohdiamant mit ähnlichem Instrumental-Line-Up, wo der Bassist zusätzlich an den Synthie ging und der Saxofonist das Perkussionshandwerk übernahm. Spätestens ab diesem Punkt war der Moment erreicht, wo man im Raum trippte und sich selbst fragte, was für einen irren Abend man hier gerade erlebte. Nicht nur Rhythmikdozierende hätten Freudetränen in den Augen: Auch hier kam wieder ein vielschichtes Polyrhythmus-Gebilde zum Tragen, das sich ähnlich eines Colin Stetson in die Gehirnwindungen einmassierte und diese durchknetete. Hirn in doppelter Ausführung, Nō Brain eben. Den gesucht wirkenden Abschiffer des folgenden Duos Group A blendete man im Rausche der Rhythmusfreuden aus. Die Japanerinnen verfolgten zwar einen spannenden Ansatz mit ihren Industrial-Klängen, nach technischen Problemen folgte aber relativ schnell der Wechsel in Technogefilde – zu spät für einen Grossteil der Zuhörer_innen, die den Raum aufgrund des Gepfeifes schon vorher verliessen. img_4205groupa Sinnbildlich das abschliessende Bild zum Solo-Set von Goat-Gitarrist Koshiro Hino alias YPY. Ein kleines, begeistertes Restgrüppchen drückt sich um den Tisch des Electro-Künstlers, der von einem Wahn in den nächsten überging. Jene glückliche Gruppe steht für die Ära Helfenstein; die von ihm programmierte Musik ist anspruchsvoll, provozierend und durchaus kritisch, stets auf dem Grad zwischen Genialität und Irrsinn. Wer sich darauf einliess, wurde selten bis gar nicht enttäuscht. Man wird dieses Programm vermissen und man wird es vor allem nie vergessen.