«Mon secret est qu’il n’y a pas de secret...»

...so ein einzigartiger, philosophischer Selbstläufer eines dreitagebärtigen Jünglings vor laufender Kamera. Er ziert sich sichtlich, fuchtelt mit seinen Händen am Kinn herum. Ist das inszeniert? Vielleicht. Aber das spielt bei rund 300 Geheimnissen keine so grosse Rolle, Hauptsache sie sind aufgezeichnet und ich, wir, das anonyme Publikum, können uns an diesen intimen Heimlichkeiten laben. Und das können wir in vollen Zügen. Die neunstündige «One day solo show – Secrets» der Videokünstlerin Elodie Pong, diesen Samstag zum ersten Mal und einmalig in voller Länge in der Galerie Sic! zur Aufführung gekommen, ist eine verheissungsvolle Wundertüte der besonderen Art. 

(Von Andrea Portmann)

Da sitze ich also um 12 Uhr vor einer Flimmerkiste, face-to-face mit Menschen, die ich nicht kenne und die mir ihre intimen Geheimnisse, zögernd, schmunzelnd, mit kritischem Blick, heftig gestikulierend, total entspannt, frank und frei, frisch von der Leber weg, total maskiert, halb maskiert oder unmaskiert, überdimensional bebrillt oder mit gekräuselter Louis-Quatorze-Perücke oder einfach so, wie sie wohl auch im Alltag rumlaufen, vor weissem Hintergrund mit schwarzen Punkten, vor farbig kariertem Hintergrund, vor einer Alpenlandschaft mit Tannen oder einer glamourösen Skyline in französischer Sprache (mit englischen Untertiteln) erzählen. Es sind dies lang gehegte Geheimnisse, die den ErzählerInnen zuweilen nostalgisch verträumte Blicke entlocken, ad hoc fingierte Geheimnisse, Geheimnisse, die eigentlich gar keine mehr sind, weil sie bereits die Ohren anderer erreicht haben, kurze, in ein paar Sekunden erzählte Geheimnisse, komplizierte, erklärungsbedürftige Geheimnisse.

Je länger man hinhört, desto klarer zeichnet sich dabei eine facettenreiche Geheimnistopografie ab, die sich über Plaudereien aus dem Sexleben, Diebstahl, Gaunereien und Betrügerbekenntnissen, alltäglichen trivialen Erkenntnissen, Reflexionen über das Wesen der Geheimnisse, Lügen, Vermutungen, Skurrilitäten, Träumereien, Befindlichkeiten und zwischenmenschliche Beobachtungen erstreckt. Was denn überhaupt ein Geheimnis ist, das zeigt sich in diesen eindrücklichen Videosequenzen, hängt stark von den Sichtweisen der ErzählerInnen ab.

Ich höre Geheimnisse, die mich berühren, die mich verstören, die ich einfach nur dumm finde, die mich nachdenklich stimmen, mich schmunzeln lassen, legendäre, verquere Geheimnisse, viele triviale Geheimnisse, die nur deshalb so unglaublich klandestin wirken, weil die ErzählerInnen sie vollständig maskiert oder durch mechanisch verzerrte Stimmen erzählen, Geheimnisse, die ich selber von irgendwoher kenne ...

Ich glaube, dass darin der Reiz all dieser Secrets liegt: Sie sind in ihrer Art urmenschlich, ich erkenne mich in diesem Geheimnis-Geflecht plötzlich selbst wieder, fühle mich angesprochen, teile das Mitgeteilte, obwohl die Menschen in der Flimmerkiste es nicht mitbekommen, wenn ich zuweilen zustimmend nicke.

Die einzelnen Videosequenzen sind etwas ungeschliffen und ruppig, mal ist der Ton etwas zu laut, dann wieder zu leise, mal flimmert das Bild ein bisschen. Doch genau diese kleinen Irritationen verstärken die Sogwirkung, der munter aufeinander plätschernden Geheimnisoffenbarungen. Ich wackle ungeduldig auf meinem Stuhl, will wissen, was für ein Geheimnis als nächstes kommt und weil ich weiss, dass ich hier und jetzt Geheimnisse erfahre, die heute nicht nochmals ausgeplaudert werden, hänge ich den auf den Bildschirm erscheinenden Menschen förmlich an den Lippen:

Ein in luftigem Hemd bekleideter mittelaltriger Mann spricht von seinem physischen Geheimnis, das sich in seinem Gesicht befinde, aber nur sichtbar werde, wenn er gewisse Mimiken mache - sogleich zuckt es um seine Mundwinkel, er hält die Hand zum Mund – et voilà, ein Zahn kommt zum Vorschein. Schnitt. Eine junge, teilweise maskierte junge Frau, die sich gefällt, erzählt aus ihrem Nähkästchen, wie ihr Freund eines Nachts betrunken zu ihr ins Bett gestiegen sei und über Nacht ins Bett gepinkelt habe. Schnitt. Ein sich dynamisch gebärdender junger Mann mit Brille gesteht, dass er eine Biskuitpackung aus dem Supermarkt geklaut habe. Schnitt. Ein mit Augenmaske getarnter Mann schweigt lange und sagt dann «I am a workaholic». Schnitt. Eine Frau mit roter Maske sagt, sie glaube, sie könne keine Kinder kriegen und werde deshalb nie eine richtige Frau sein. Schnitt.

Und dann plötzlich bin ich irritiert und es passiert das, was mir bei guter Kunst oft passiert, die Hirnwindungen kommen zu mittäglicher Stunde gehörig in Schwung, ich denke über meine eigenen Vorstellungen nach.

Geheimnisse? Sind das da eigentlich alles Geheimnisse? Und sowieso, und überhaupt, was sind Geheimnisse? Ich dachte immer, die würde man hegen und pflegen, striegeln und putzen, in ein kleines schmuckes Kästchen packen und mit einem «slûzelin» wie es die mittelalterlichen Minnesänger zu sagen pflegten, wohl verschliessen. Vielleicht, vielleicht einmal in einem exquisiten, noblen, auserlesenen Augenblick vertraut man unter besonderen Umständen einer nahe stehenden Person unter vier Augen das Geheimnis an, im Wissen, dass sie es sicher nicht (in den nächsten Stunden) weitererzählt.

Geheimnisse machen das Gegenüber zauberhaft, man weiss, dass man nicht alles vom anderen weiss, man selbst kokettiert mit dem Wissen um seine eigene Geheimnisse, man lächelt das Gegenüber verträumt an und denkt «ich weiss Dinge über mich, die du wohl gerne von mir wissen würdest, aber nicht weißt und womöglich auch gar nie erfahren wirst». Geheimnisse machen Beziehungen interessant. Geheimnisse sind intim, sie sind Teil der Privatsphäre. 

Soviel zu (m?)einigen möglichen, zugegebenermassen romantischen Vorstellungen, was die Wesenheiten der Geheimnisse betrifft.

Nun prallen diese Vorstellungen auf einen Fernseher, in dem Personen erscheinen, die mir – und hier stolpere ich wieder, egozentrisch ist der Mensch, was auf einem Monitor erscheint, ist natürlich nicht nur für mich alleine, obwohl mir das durchaus reizvolle Gefühl vermittelt wird, ich alleine sei angesprochen –ihre Geheimnisse erzählen. Wenn ich mir das recht eigentlich überlege, dann haben diese Menschen ihre Geheimnisse nicht mir, als Stellvertreterin einer anonymen Masse erzählt, sondern einer Maschine – der Kamera. Erst durch die Künstlerin Elodie Pong, die diese Aufzeichnungen im Kunstkontext zeigt, bekommen die vielen Geheimnisse eine Zuhörer/-seherschaft.

Das Private, Intime wird öffentlich, durch ein Massenmedium ausgestülpt, allen Schau- und Hörlustigen, die Zugang zu Internet und Fernsehen haben, zugänglich. Auch ich nehme während ich in die Flimmerkiste blicke und gespannt den verheissungsvollen Geheimnissen lausche, nicht ohne Vergnügen zur Voyeurin, die Anteil an den Geheimnissen hat, die mir geboten werden. 

Genau diese Schnittstelle zwischen Privatem und Öffentlichem, ist ein beliebtes künstlerisches Experimentierfeld der 1966 in Bosten geborenen und mittlerweile im neunten Monat schwangeren Elodie Pong, die eigentlich am Samstag auch in der Galerie zugegen gewesen wäre, doch eben aus schwangerschaftstechnischen Gründen nicht hat kommen können, wie mir Nadine Wietlisbach, Leiterin des Sic-Raumes, erzählte. Wietlisbach war es übrigens auch, die entschieden hat, dass sämtliche 300 Geheimnisse zum ersten Mal in voller Länge, während neun Stunden gezeigt werden.

Pong lotet mit den Mitteln der neuen Medien die Beschaffenheit des Intimen und sein Bezug zum Öffentlichen in der heutigen Zeit aus. Schaut man genauer hin, so merkt man, dass das Instrument zur Sichtbarmachung natürlich die Technik ist, die eigentliche Lupe auf gesellschaftliche Phänomene aber die Menschen mit ihrem Achselzucken, ihrem Augenzwinkern, ihren Ähs und Hmmms, ihren Unsicherheiten, ihrer Sprache, ihren Verkleidungskünsten, ihren unverbesserlichen Auftritten vor der Kamera, sind.

All dieses menschliche, allzu menschliche Gebaren findet man auch in den «Secrets» in feinsten Nuancierungen wieder. Ausserdem schafft Pong mit «Secrets» eine subtile Kritik von öffentlichen, massenmedialen Ausschlachtungen privater Geheimnisse bekannter Personen.

Das Spielen mit dem Gedanken, ein Geheimnis weiter zu erzählen, ist Bestandteil des Geheimnisses. Auch das Wissen darum, dass ein Geheimnis, sobald es erzählt ist, eigentlich kein Geheimnis mehr ist. Dem Geheimnis ist das Weitererzählen in die Wiege gelegt. Eine Ahnung davon, was Geheimnisse sein könnten, bekommen wir eigentlich erst, wenn wir Geheimnisse austauschen oder uns Geheimnisse von anderen, unbekannten Menschen anhören – es müssen ja deren nicht gleich 300 sein.

Übrigens, wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat: auf Elodie Pongs Homepage kann man sich einige Geheimnisse anschauen.