Misery's the river of the world – Von Psychopathen, Nutten & Freaks

«Woyzeck» wird momentan am Luzerner Theater gleich doppelt gespielt. Als musikalische Tragödie in 18 Szenen und einem Epilog von Manfred Gurlitt, wie auch als Schauspielermusical von Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan. Gestern Abend war Premiere von letzterem. Inszeniert hat Andreas Herrmann, das Bühnenbild stammt von Max Wehberg. Noch gute zwölf Stunden später bin ich tief ergriffen.

(Fotos: Ingo Höhn, dphoto.ch)

Die Story ist altbekannt und bestimmt haben sie alle in der Schule gelesen. Es ist die wahre, von Georg Büchner fragmentarisch niedergeschriebene, Geschichte von Johann Christian Woyzeck, geboren 1780 in Leipzig (DDR). Nach Jahren des Umherirrens findet der preussische Soldat in seiner Geburtsstadt ein Zimmer bei der Witwe Marie Woost, die sich schnell mit ihm einlässt. Woyzeck versucht, für sich, seine Geliebte und ihr gemeinsames Kind den Lebensunterhalt zu verdienen, indem er einen von Moral schwadronierenden Hauptmann von Zeit zu Zeit rasiert und einem zynischen Doktor für fragwürdige Experimente zur Verfügung steht. Als Woyzeck erfährt, dass Marie gleichzeitig freizügigen Umgang mit allerlei Soldaten pflegt, werden die Stimmen in seinem Kopf immer lauter. Am 2. Juni 1821 ersticht Woyzeck seine Geliebte. Irgendwann kurz vor dem Millenium – ein lustiger Begriff im Nachhinein – hockten Robert Wilson und Tom Waits mal zusammen. Sie hatten damals bereits mit Kooperationen wie «The Black Rider» (zusammen mit Burroughs) und «Alice» grosse künstlerische, wie auch Publikumserfolge gefeiert. Wilson fragte an, Waits sagte zu. So wurde ein weiter Meilenstein des Musicals gezeugt. Robert Wilson inszeniert seine Stoffe selber am besten. Und auch die Waits-Songs klingen einzig mit Toms Reibeisenstimme wirklich authentisch. TROTZDEM. Wenn man das «Blood Money»-Album und die schlicht geniale Originalinszenierung vom November 2000 für gute zweieinhalb Stunden aus seinem Kopf verbannen kann, erwartet einem am Luzerner Theater ein Schauspielermusical der Extraklasse, das Extreme und Facetten des Lebens auslotet, die zeitlos sind. Die Männer sind allesamt Psychopathen, Marie eine Schlampe, dazwischen Clowns und Harlekins.

Das Bühnenbild von Max Wehberg, eine sich im Kreis drehende Holzkonstruktion, die Zimmer und Flächen beherbergt, ist schlichtweg genial. Die Musiker im Graben unten, die allesamt an der Jazzschule Luzern studiert haben oder es noch immer tun, können's mit der Waits'schen Kapelle allemal aufnehmen. Es ist bekannt, dass das Luzerner Theater in der glücklichen Lage ist, wirklich gute Schauspieler engagiert zu haben. Diesmal wachsen sie jedoch öfters über sich hinaus. Die Besetzung erweist sich als wahrer Glücksfall. Christoph Künzler als durchgeknallter Militärkopf, David Imhoof als skrupelloser Herr Doktor mit fanatisch glänzenden Augen, Hans-Caspar Gattiker als verstörter, armer Woyzeck (warum hat bloss mal jemand Kinski für diese Rolle gecastet, frage ich mich des öfteren im Verlauf des Abends. Woyzeck ist besser als verlorener Ausgebeuteter, der den Verstand verliert, denn als totaler Psychopath!).

Manuel Kühne, der den Tambourmajor mimt, mit dem Marie ein Verhältnis beginnt, überzeugt mit kratziger Gesangsstimme, Daniela Britt behält als jokerhafter Ausrufer das ganze Stück hindurch eine geisterhafte Präsenz, die sich zwischen Jahrmarktkomödiantentum oder – und das öfter – eiskalt den Rücken hinunterlaufen einpendelt. Sowieso könnten die Figuren des Ausrufers, wie auch von Karl, dem Idioten (Samia von Arx) – er erzieht Woyzecks Kind nach dem Tod seiner Eltern, remember? – geradesogut in einem Lynch-Film Platz nehmen. Ich möchte schliessen mit Worten von Tom Waits. «Woyzeck handelt von Wahnsinn und von Obsessionen, von Kindern und von Mord – alles Dinge, die uns berühren. Das Stück ist wild und geil und spannend und die Phantasie anregend. Es bringt einen dazu, Angst um die Figuren zu bekommen und über das eigene Leben nachzudenken. Ich schätze mal, mehr kann man von einem Stück nicht verlangen.» Viel mehr als diese Inszenierung kann man auch von einem Luzerner Theater nicht verlangen. So gehet hin in Frieden. Man kann viel sehen, wenn man zwei Augen hat und nicht blind ist und die Sonn' scheint ... ... dies sollte man sehen.

Hier wird das Stück (in Wilsons Inszenierung) auf ZDF kurz vorgestellt. Weitere Spieldaten:

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