Mal wilde Geliebte, mal mütterlich' Schoss – Bonjour Madame im Kleintheater

Am Silvesterabend spielte Bonjour Madame im aus allen Nähten platzenden Kleintheater. Dabei drängten sich zwei Fragen auf: Warum nicht öfter & wann kommt ein Album? (Eine DVD ist bereits zu erwerben). Ihr Programm widmete sich frivol-melancholisch den Liebeseskapaden von Madame, in – vornehmlich altmodisch gereimten – Zwischenerzählungen ihres Sekretärs Baptiste Boudoir. (Nicht zu verwechseln mit La Philosophie dans le Boudoir.)

Nachdem er die Festtage vornehmlich damit zugebracht hatte, restlos alle Folgen von Twin Peaks (inklusive des nachgeworfenen Films) zu schauen (empfehlenswert), sowie sich mit störrisch-stupiden Zivildienstbeamten zu zanken (nicht empfehlenswert, gibt Disziplinarverfahren), verliess er an Silvester seine warme Höhle, um der Madame und ihrem Begleiter zu lauschen, die mit verschiedenen Formationen auftraten. Erst Madame alias Eva Heller solo, mit Akkordeonbegleitung, die hinter dem Vorhang hervor erschall, dann zusammen mit Baptiste Boudoir aka Christov Rolla, drei Bläsern und – schliesslich – einer Rhytmussektion. Ist es Pop, Chanson oder einfach verdammt guter Schlager? Einzig den auf der Band-Homepage verkündete Punk vermochte ich nirgends auszumachen, denn zum Punk gehört stets eine grosse Portion Dilletantismus. Der war bei solch versierten Musikanten eindeutig nicht rauszuhören ... – Oder war da doch das fulminante eingedeutschte Clash-Cover «Lenzburg wartet» gemeint? Apropos Coverversionen: Bonjour Madame sind eine der wenigen Bands, bei denen die eigenen Songs neben den doch einigen Covers nicht abfallen, sondern sich beide miteinander verweben, einen neuen Sinn offenbaren. Auch da muss man Rolla loben, der es versteht, grosse Texte so einzudeutschen, dass die Seele erhalten bleibt. Einziger persönlicher Wehmutstropfen: Das Dirt-in-the-ground-Cover schaffte es nicht, ins Set aufgenommen zu werden. Lag wohl daran, dass das ein wenig gar düster gewesen wäre für eine Silvesternacht, die den Aufbruch in die 10er-Jahre markierte. Letztendlich bleibt doch alles dasselbe, und wir werden auch noch in den 3000er-Jahren zu «Dirt in the ground» werden. Ist es Grosskunst, Mittelkunst, Kleinkunst? Grosse Kunst alleweil. Zum Glück denken die Akteure wenig über Schubladisierungen nach. Sie tun, was sie am besten können. Fabulieren, Spielen, Singen, Musizieren. Eva Heller scheint all ihre aufgestauten Emotionen in diesen Songs rausfliessen zu lassen, als Sturmflut. Tatsächlich ist es, wie eine Zuschauerin nach dem Konzert bemerkte: Man könnte diese Frau auf der Bühne austrinken. Eine Tsunamiwelle von Leben und Suff, Liebe und Enttäuschungen rollt auf das Publikum zu. Schon oft gehört? Nicht aber auf diese ergreifende Art und Weise. (Pop-/Chanson-)Kultur funktioniert auch auf deutsch. Das ist schön zu erleben. So sind die künstlerisch in Szene gesetzten Eskapaden von Madame Musik und Theater zugleich, und Musiktheater ist ja eines der hiesigen «Mots choquer» der Stunde. Wenn wir schon dabei sind: Auch das Kleintheater ist eine Art Salle Modulable, wie es nach dem Konzert eindrücklich offenbarte. Die Stühle der ersten sechs Reihen wurden rausgetragen, die gestufte Fläche erhöht und voilà – schon war er herbeigezaubert, der Dancefloor, den bis in die frühen Morgenstunden erst Pirelli – in porniger Glamourverkleidung (war das ein Zuhälterschnauzer? ;P), später noch the incredible DJ Fett rockten – aber da war ich bereits wieder auf der Reise nach Twin Peaks ... «Diane, es ist 3:23 nach Mitternacht und ich ...»