Märchenstunde – ohne Verena

Luzerner Theater, Freitag, 4. Mai 2012: Bei der gestrigen Premiere von «Grimm – eine Hausmärchen-Expedition» gab es eine prominente Abwesende: Verena Rossbacher, die neue Hausautorin des Theaters an der Reuss. Was sich abzeichnete, ist eingetroffen: Verena Rossbacher und Thorleifur Örn Arnarsson – zwei starke Persönlichkeiten – bringen ihr Heu nicht auf die gleiche Bühne. Dass die Expedition nicht in einer Sackgasse mündete, spricht für beide.

Es ist anzunehmen, dass zwei diametral entgegengesetzte Arbeitsweisen aufeinander trafen: Rossbacher, eine Autorin – hier verstanden im engsten und konventionell literarischen Sinne – und Arnarsson, ein Intendant – an dieser Stelle aufgefasst als umfassender Dompteur. Löblich, dass einer der beiden eingesehen hat, dass es einer Quadratur des Kreises gleichgekommen wäre, diese zwei verschiedenen modus operandi zu vereinbaren. Nun, dieses Ringen hat sich auch in der Titelgebung des Stücks niedergeschlagen. Die lautet nicht mehr «Hausmärchen-Expedition» von Verena Rossbacher und Thorleifur Örn Arnarsson, sondern «Hausmärchen-Expedition» mit Szenen aus Verena Rossbachers Theaterstück. Rossbachers Autorenfassung wird kommenden Juni in der Zeitschrift «Theater der Zeit» zu lesen sein. Es mag widersprüchlich klingen, aber der vom Luzerner Theater vorgeführte Husarenritt durch die Märchenwelt der Grimms (fast kein bekanntes Märchen wird ausgelassen) ist stimmig, obwohl die Märchenfiguren der Gebrüder Grimm lediglich als Schablone dienen: Durch diese drückt, schiebt und bisweilen quetscht Arnarsson aktuelle Stereotypen. Dabei nehmen Figuren Gestalt an, die an das einschlägige deutsche Privatfernsehen erinnern. Das ist ulkig, witzig und in der ersten Hälfte leider auch seicht. Wenn dabei trotzdem etwas erhellt wird, liegt dies vor allem an der brachialen und direkten Inszenierung: Die Märchen – so scheint es in der Luzerner Fassung – sind grösstenteils verklausulierte, unterdrückte und übersteigerte Libidoregungen. Dass sich die damalige Zeit der expliziten Darstellung der Sexualität verwehrte und sich dabei einen Wortreichtum sondergleichen erdachte, mag im 21. Jahrhundert amüsant sein. Dass uns im Heute diesbezüglich eine gewisse Subtilität und Zweideutigkeit abhanden gekommen ist, stimmt indes weniger zum Lachen.

Die Frage, wer hier über wen lacht, wird bei dieser Expedition offen gelassen. Die Bühne von Vytautas Narbutas zeigt ein opulentes, aber sich im Zerfall befindliches Theater mit Balkonen und einer Bühne. Darin liegt die Stärke dieses Stücks. Der Zuschauerin und dem Zuschauer wird klar gemacht: Du bist es, der diese Märchen schreibt und weiterschreibt. Du mit deinen Gefühlen, Verwirrungen und Irrungen bist die beste Vorlage. Es kann nicht darum gehen, die Grimmschen Märchen ins Hier und Jetzt zu adaptieren, Du, Publikum, lebst sie Tag ein Tag aus! Dabei ist es eine Freude, den üppig kostümierten Schauspielern beim Fabulieren zuzusehen. Allfällige Kritik wird bereits während der Aufführung mit den Mitteln des Märchens konterkariert: Marie Gesien als schulmeisterliche Gretel nimmt dem – berechtigten – Einwand, dass die Inszenierung über keine Dramaturgie verfüge, allen Wind aus den Segeln. Das Stück mündet in einem unterhaltsamen Höhenflug von Selbstironie, die das eine oder andere der nicht unproblematischen Genese dieses Stücks überdecken soll. Das Publikum hats mit viel Applaus und Gelächter quittiert.

Bis 16. Juni, Luzerner Theater