Liquid Land

Stattkino Luzern, 20.09.2013: Wer New Orleans hört, denkt an Wirbelsturm oder Mardi Gras. Der Musiker Simon Berz und die Filmemacherin Michelle Ettlin haben eine andere Seite der angeschlagenen Musikstadt kennengelernt und zeigen in ihrem Projekt Liquid Land eine Gruppe von Musikern, welche sich abseits von ausgetretenen Pfaden eine Szene geschaffen haben, in der experimentiert wird mit alten und neuen Sounds, und in welcher der soziale Aspekt der Musik eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die Fähigkeit, zu improvisieren.

Die Kamera gleitet durch verwunschenes Land: Riesige Sümpfe, bedeckt mit einer grünen Blätterschicht, weisse Häuser aus Holz entlang einer Strasse, dazu eine Musik, die sich aussergewöhnlicher Geräusche bedient. Das Intro zu Michelle Ettlins Film erinnert an „Down by Law“ von Jim Jarmusch. Die Kamera bleibt stehen auf einem sich drehenden Ventilator, der ein Schattenmuster an die Wand wirft, passend zu einem rhythmischen Sound. Schwarzweissaufnahmen zeigen nun die Musiker, die vor seltsamen selbstgebastelten Apparaten sitzen, mit denen sie die Töne erzeugen. Auf der Suche nach Rohmaterial für ihre selbstgebauten Musikinstrumente ziehen die beiden Musiker Simon Berz und Kaspar König durch die Strassen von New Orleans. „Den Sound eines Ortes hat viel mit den Materialien zu tun, die man im Abfall findet“, meinen sie. Nicht nur das. Musikinstrumente aus Abfall zu bauen hat in New Orleans Tradition: Schon früher wurden hier Gitarren aus Zigarrenkisten und Bassgeigen aus alten Eimern hergestellt. Entstanden ist daraus eine neue Musikart, die heute weltbekannt ist. Ihr Projekt nennen die beiden Musiker NOWA, New Orleans Waste. Sie arbeiten eng mit Musikern aus der New Orleanser Szene für improvisierte experimentelle Musik zusammen. Im Film wechseln sich Konzertaufnahmen mit Statements der Musiker ab, die über ihre Musik und ihr Leben in New Orleans erzählen. In New Orleans sei die Stimmung einzigartig, sind sich alle einig. Die Musikszene ist sehr lebendig, Musik überhaupt gehört zum Alltag und ist aus der Stadt nicht wegzudenken. Jedes Fest hat seine traditionelle Musik, die die Menschen durch die Jahre begleitet und ihnen Halt bietet. Und gleichzeitig bietet die Stadt Raum für Experimente. Neues und altes wird vermischt oder lebt nebeneinander, ohne sich zu stören oder sich gegeneinander abzugrenzen. Die Stadt ist ein unsicherer Ort. Sie ist auf sumpfigem Grund gebaut und ständig bedroht durch Wirbelstürme und Überschwemmungen. Für die Menschen, die hier leben bieten soziale Gefüge, Bräuche und Traditionen seit jeher mehr Halt und Sicherheit als Gebäude und Mauern, weil diese jederzeit zerstört werden können. Die Kultur hat sich deshalb sehr ausgeprägt entwickelt. „Dies war schon immer ein Ort, wo alles zusammenfliesst“ sagt eine Musikerin. Einwanderer aus verschiedensten Kulturen, das Wasser des Flusses und des Ozeans... Zerstörung und Tod ist sehr präsent in den Aussagen der Musiker. Der Hurrikan Katrina, der die Stadt 2005 zu einem grossen Teil zerstörte, hat tiefe Narben hinterlassen und die Menschen verunsichert. Gleichzeitig hatte er aber auch positive Einflüsse auf die Stadt. Er habe die Menschen zusammengeschweisst und die kreative Szene, besonders die Szene für improvisierte und experimentelle Musik, habe einen grossen Aufschwung erhalten. Die Stimmung sei nach dem Hurrikan genau die richtige für Experimente gewesen, weil sowieso alle Sicherheit verloren und das Leben an sich improvisiert war. Immer wieder findet Michelle Ettlin Bilder, die die Stimmung und den Rhythmus der Musik perfekt aufnehmen: Ein Vogelschwarm, der sich auf einem Strommast niederlässt, Fahrten auf der Autobahn, eine makabre Sammlung von Beinprothesen auf einem Friedhof, schaukelnde Boote, tanzende Menschen auf der Strasse, Bäume in der Dämmerung... Im Gespräch nach dem Film erzählen Michelle Ettlin und Simon Berz noch etwas mehr über ihre Arbeit und New Orleans. 2009 sind sie erstmals da gewesen, auf Tournee. Sogleich hat sie die besondere Stimmung der Stadt und die aussergewöhnliche Offenheit und Herzlichkeit der Musiker fasziniert und bereits da hatten sie die Idee für diesen Film. Inzwischen ist New Orleans schon so etwas wie ein zweites Zuhause für sie. In Zukunft wollen sie weiterhin mit New Orleanser Musikern zusammenarbeiten und zudem den Austausch zwischen der Schweiz und New Orleans fördern. Die Schweizer könnten einiges lernen, meint Simon Berz. Liquid Land. Von Michelle Ettlin, Schweiz 2012, 62 Min.