Lebensbilanz mit roten Zahlen

Ein Mann rekapituliert sein Leben, in dem das Meiste nicht so lief, wie es sollte. Eine Stunde hat er Zeit, bis der Polizist kommt, den er angerufen hat. Es handle sich um etwas Dienstliches, merkte er noch an. «Alpenbrevet», Heinz Gadients Adaption von Heinz Stalders Roman «Marschieren», ist ein beklemmendes Einmannstück, das mitten ins Herz geht. Gestern feierte es in der ausverkauften Zwischenbühne Premiere.

Mit einem Einmannstück scheitert man schnell. Es ist extrem schwer, über eine längere Zeit die Spannung aufrecht zu erhalten. Ein Einstundenmonolog wirkt meist bald ermüdend. Wenn der Schauspieler nicht über genügend Ausstrahlung verfügt, ist's sowieso gelaufen. Kennen wir alles. Umso schöner ist es, zu sehen, wie einer damit regelrecht brilliert. Heinz Gadient, der sich dem «Alpenbrevet» in Personalunion als Autor, Regisseur und Schauspieler angenommen hat, machte alles richtig: Er entschied sich, das Stück in Mundart aufzuführen und wurde so der Alltagssprache gerecht, musste nicht «theäterlen», sondern verschmolz mit seiner Rolle, die er extrem facettenreich gab, oftmals beängstigend weit. Dazu passte er die Motive aus Heinz Stalders Romanvorlage so an, dass sie seiner Lebenswirklichkeit entsprachen. Was im Roman das Marschieren ist, ist bei Gadient das Velofahren – die Bühne ist eine Velowerkstatt, der Chor wird zur Dorfmusik, das Klavier zum Schlagzeug. Der Protagonist,  ein Bauer, der wegen einer Witfrau ins Dorf gekommen ist, die er später heiratete, fühlte sich dort nie wirklich heimisch. Er ist ein eher verschlossener Kerl. Die Kinder der Witfrau mögen ihn nicht, bis auf die älteste, aber die stirbt jung. Für die meisten Dorfbewohner hat er bloss Verachtung übrig, wie sie für ihn. Und auch wenn er sich versucht zu integrieren – eben beispielsweise in der Dorfmusik – klappt das auch nicht so wirklich. Er hat Leidenschaften: seinen Wald oder das Velofahren und -flicken. Doch seine Frau interessiert sich nicht dafür, wie er sich nicht für ihre Hühner interessiert. Nachdem er verunfallte, müssen sie den Hof und Umschwung verkaufen, nur das Haus bleibt ihnen und der Wald – bis der Gemeinderat beschliesst, eine Strasse durch ihn zu bauen.

«Alpenbrevet» ist eine Lebensbilanz, die mit roten Zahlen schliesst. Eine Klage über ein vermaledeites, schief gelaufenes Leben, das so nicht hätte laufen müssen. Im Dunkelschwarz blitzt aber immer wieder eine teilweise verzweifelte Zärtlichkeit auf, am Horizont glüht eine abgrundtiefe Menschlichkeit, die ergriffen und betroffen macht. «Alpenbrevet» ist hervorragend gespieltes, man ist versucht zu schreiben gelebtes, Theater, wie man es sich oftmals bloss wünschen kann.
Heinz Gadient: Alpenbrevet, SA 3., DO 8., FR 9., SA 10. September, 20.30 Uhr, Zwischenbühne Horw