Köpfe, Zahlen, alternative Fakten

Kino Bourbaki, 22.01.2019: Der Heilsbringer für die Gegner der Tiefsteuerstrategie ist da. «Luzern – der Film» heisst jetzt «Kopf oder Zahl» und feierte gestern Premiere. «Die Wahrheit über die Luzerner Steuerstrategie ans Licht bringen» war das Ziel. Dies gelingt dem überladenen Streifen nur bedingt. Als Beitrag zur Meinungsbildung und Diskussionsgrundlage angesichts der baldigen Kantonsrats- und Regierungsratswahlen ist er jedoch zu begrüssen.

Vor etwas weniger als einem Jahr erreichte die freudige Botschaft 680 Crowdfunderinnen und Crowdfunder: «Luzern – der Film» wird gedreht. 136'646 Franken kamen zusammen, um einen Film über die angeblich gescheiterte Tiefsteuerstrategie des kantonalen Finanzministers Marcel Schwerzmann zu drehen. Das Crowdfunding war der Gipfel von mehrmonatigen Protesten der Bevölkerung, die den Leistungs- und Staatsabbau in ihrem Kanton nicht mehr goutieren wollten: Zwangsferien, Kürzung bei Prämienverbilligungen, Streichen von Kulturfördergeldern.

Stimmen aus dem linkskulturellen Lager waren damals besonders laut. Verständlicherweise, waren diese Menschen von den Sparmassnahmen am stärksten betroffen. Der Protest verbreitete sich aber bis tief in die politische Mitte, da sich Marcel Schwerzmann bei Budgetierungen mehrmals verkalkuliert hatte. Vor etwas weniger als einem Jahr ist der Protest stiller geworden, beinahe verstummt. In zwei Monaten wird sich zeigen, ob die Hoffnung in einen Film reicht. Oder ob die Energie in anstrengende Überzeugungsarbeit hätte gesteckt werden müssen.

Der Wunsch der Initiantinnen und Initianten des Crowdfundings war es, einen aussenstehenden Filmemacher für das Projekt zu gewinnen. Damit sollte die politische Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit des Projektes gewährleistet sein. Sie entschieden sich für den in Basel tätigen Dokumentarfilmer Reinhard Manz. Er ist Mitgründer der Basler Produktionsfirma «point de vue», einer unabhängigen Produktionsfirma für Dokumentarfilme, Medienkunst und audiovisuelle Auftragsprojekte.

Zu überladen, zu neutral?

Innerhalb der ersten zehn Minuten werden in «Kopf oder Zahl» folgende Themen durcheinandergewirbelt: Die Luzerner Kantonsratsdebatte 2017, der Tourismusstandort Luzern, die gesenkten Unternehmenssteuern 2010 und 2012, das Schweizerische Bankengeheimnis, Sparmassnahmen, Protestaktionen aus der Kulturszene, Schülerdemonstrationen, Ressourcenknappheiten, der Neoliberalismus von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, Offshore-Firmen, der automatische Informationsaustausch in der Schweiz.

«Kopf oder Zahl» möchte die obigen Themen in einen grösseren Zusammenhang bringen. Um so zu zeigen, dass die Luzerner Tiefsteuerstrategie Teil einer globalen Entwicklung ist, die das Individuum stärken und die Gemeinschaft schwächen will. Und die damit denen zu Gute kommt, die bereits von Geburt an besser betuchte Individuen sind und  Gemeinschaft nicht nötig haben oder solchen, die ihr eigenes Individuum über jegliche Gemeinschaft stellen. Weshalb entschied sich Reinhard Manz zu so einer ambitionierten Herangehensweise? «Oft wird in der Politik verkürzt argumentiert. Wenn der Film dazu beiträgt, mehr Zusammenhänge aufzuzeigen, kann er vielleicht festgefahrene Meinungen aufweichen.» Das ist löblich und in der Sache richtig.

So präsentiert sich der Trailer von «Kopf oder Zahl»:

«Kopf oder Zahl» gelingt es jedoch nur ansatzweise, diese Themen so herunterzubrechen und miteinander in Verbindung zu setzen, dass ein kohärenter und konsistenter Gedankengang herauszulesen wäre. Begründungen, weshalb Werte wie Gemeinschaft, Kultur oder ein ausgebauter Sozialstaat wichtig sind und wie sie mit einer neoliberalistisch ausgerichteten, freien Marktwirtschaft konfligieren, sucht man vergeblich. «Kopf oder Zahl» wechselt abrupt und chaotisch, teilweise gar satz- oder wortabschneidend, zwischen konträren Meinungen. Und hält sich mit einer Kontextualisierung oder gar Bewertung dieser Meinungen dezidiert zurück. Eine wohlüberlegte Haltung wird von Manz umfilmt. Warum? «Der Film soll zum Dialog anregen, meine Meinung in Kommentaren darüber zu stülpen, wäre vermessen.»

Die fehlende Haltung mag nicht weiter stören, weil das Anliegen darin bestand, einen möglichst neutralen und damit glaubwürdigen Film zu drehen. Allerdings bedeutet Neutralität nicht unbedingt, keine Haltung einzunehmen. Sondern, verschiedene Meinungen anzuhören und sich dann nach bestem Wissen und Gewissen für eine Seite zu entscheiden. Ab und an setzt die Kommentarstimme in «Kopf oder Zahl» zu einer zurückhaltenden Bewertung des Gezeigten an, wird aber nie parteiisch-argumentativ. Vielleicht wurde «Kopf oder Zahl» deshalb unabhängiger und neutraler, als es den Initiantinnen und Initianten des Crowdfundings vorschwebte. Die Wortmeldungen und Meinungen im Film sagen nämlich nicht viel Neues, als schon in vorigen Debatten gesagt worden wäre. Aber sie sind hier im Film auf kurzweiligen eineinhalb Stunden gesammelt, allein das ist den Gang ins Kino wert.

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Marcel Schwerzmann kommt in «Kopf oder Zahl» erstaunlich gut weg.

Schwerzmann findet den Film gelungen

In einem Anflug von Angst, wie ausgewogen der Film sein würde, hatten die Industrie- und Handelskammer Zentralschweiz (IHZ) und der KMU- und Gewerbeverband kurzerhand selber einen einminütigen Film gedreht (zentralplus berichtete). Das hätte nicht sein müssen und wirkt im Nachhinein eher peinlich. Denn «Kopf oder Zahl» liefert auch denjenigen Bürgerlichen eine gute Plattform, welche die Tiefsteuerstrategie gutheissen. Sogar Marcel Schwerzmann findet den Film gelungen.

Und das dürfte der wohl grösste Kritikpunkt an «Kopf oder Zahl» sein. Denn die Ausgewogenheit und Neutralität ist in dieser Stärke nicht gerechtfertigt. Wir bewegen uns im Kanton Luzern immer stärker in Richtung eines USA-ähnlichen Anything-Goes-Diskurses, in dem auch Meinungen gehört werden dürfen, die falsch sind und zu sogenannten «alternativen Fakten» zählen dürften. Donald Trump liebt es, auf Twitter Statistiken zu publizieren, die zeigen, wie gegenwärtig die Arbeitslosigkeit sinkt. Diese Statistiken stimmen. Unterschlagen wird allerdings, dass dies bereits unter der Präsidentschaft von Barack Obama der Fall war. Und wohl eine direkte Folge von dessen politischen Entscheidungen ist.

Marcel Schwerzmann führt ebenfalls gerne die geschaffenen Arbeitsplätze und hinzugezogenen Firmen an, wenn seine Tiefsteuerstrategie kritisiert wird. Auch im einminütigen, oben erwähnten Filmlein namens «Luzern – die Realität» werden Statistiken veröffentlicht, welche die sinkende Arbeitslosigkeit und das Firmenwachstum seit den Unternehmenssteuersenkungen veranschaulichen sollen.

Nur: Der Tages-Anzeiger hat 2016 darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosigkeit in Luzern bereits seit 2005 stetig gesunken ist. Schwerzmann ruht sich also, ähnlich wie Donald Trump, auf falschen Lorbeeren aus. Auch die Rede von einer Ansiedelung von Firmen ist irreführend: Es kamen vor allem Briefkastenfirmen, wie von der Luzerner Staatsanwaltschaft ernüchternd festgestellt wurde. Solche Kritik lässt der Finanzminister meistens ironischerweise mit dem Hinweis darauf, man möge doch «sachlich diskutieren», abprallen. Sachliche Argumente, die seine gescheiterte Tiefsteuerstrategie offenlegen, lässt er ebenfalls abprallen.

Marius Brülhart, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lausanne, meinte gegenüber dem Bund: «Aus der Warte der Steuereinnahmen handelt es sich um einen ziemlich klaren Misserfolg. Was die öffentlichen Einnahmen betrifft, wäre der Kanton wohl am besten gefahren, wenn er die Unternehmenssteuern überhaupt nicht gesenkt hätte.» Links oder rechts spielen hier nur noch bedingt eine Rolle, es geht um das Vertrauen in das Expertentum, ein wichtiger Pfeiler unserer Demokratie.

«Kopf oder Zahl» wird bis kurz vor den Wahlen in ausgewählten Kinos im ganzen Kanton Luzern gezeigt. Hoffentlich finden sich dort einige Leute ein, die sich von Argumenten und nicht von stetig wiederholten Falschaussagen, Wissenschafts- bzw. Expertisefeindlichkeiten und Verkürzungen, wie sie in den letzten Jahren von Marcel Schwerzmann zuhauf getätigt wurden, überzeugen lassen.

Der Film wird in den nächsten Wochen mittels einer Roadshow an ausgewählten Orten in der Zentralschweiz gezeigt. Anschliessend an die Vorführungen finden politische Diskussionen statt. Hier findet man alle Daten und Möglichkeiten zur Reservation.