Können sie auch noch ein anderes Lied? – Tiger Lillies im Sedel

Die Tiger Lillies, das Kulttrio um «criminal castrato» und Falsettsänger Martyn Jacques, bespielten den gut besuchten Sedel. Pirelli fands so übel nicht, fragte sich aber bereits gegen Ende des ersten ausufernden Sets: Können sie auch noch ein anderes Lied?

Holzbänke und Sofas im Halbkreis vor der Bühne, eine fast weihevolle Stimmung – ganz klar: Theatralisch solls werden. Nach kurzer Anmoderation durch Sedel-Barchef Boris betritt die Band die schön gesetzten Scheinwerferkegel, in klassischen Variété-Retrostil gewandet, Sänger Martyn Jacques wie immer aufwendig pierrotesk geschminkt. Ebenso klassisch die Besetzung: sparsam bestücktes, kleines Schlagzeug (Adrian Huge), elektrischer Kontrabass mit kleinem Korpus, Jacques spielt erst eine elektrische Nylonsaitengitarre (Adrian Stout), wird aber bald zum Akkordeon wechseln und sich gar hinter das Klavier setzen. Typisch für die Band ist neben dem theatralischen Auftreten auch Jacques’ Gesangsweise: Mit Ausnahme eines einzigen Lieds verrichtet er seinen Job ausschliesslich in Kopflage, im Falsett, sich damit in die lange Tradition britischer Countertenors stellend (auf die sich letztendlich auch Jimmy Somerville von Bronsky Beat bezog). Für kontinentale Ohren ist die Stimmlage, nun, eher gewöhnungsbedürftig, vor allem in dieser ausdauernden  Länge – schon das erste Set dauerte beinahe 90 Minuten. Die Musik der Tigerlilien ist schön, sie klingt alt und ebenfalls traditionsbezogen, sie erinnert an die Hochzeit des Berliner Cabarets in den Wilden Zwanzigern, an die Orchester kleiner Zirkusse, weist Gypsy-Anklänge ebenso auf wie modernere Popbezüge und schreckt auch vor Zeitlupenpolka nicht zurück. Die Texte behandeln Dauerbrenner: Religion, ergebene Frauenliebe dem prügelnden Mann gegenüber, Sodomie, Prostitution, philosophierende Weltbetrachtung, Drogen etc. p.p. Gelegentlich kommt raue Mehrstimmigkeit zum Einsatz, ab und an – verdankenswerterweise – greift Bassist Stout zur singenden Säge und sogar zum Theremin. Der Sound ist dicht, Bass wie Schlagzeug klingen trotz der eher geringen Lautstärke äusserst satt, bauen ein tüchtig Fundament für Jacques stimmliche Eskapaden. Weshalb also die einleitende Frage, ob sie denn nicht auch noch ein anderes Lied könnten? Nun, da ist zum einen der heilige Ernst, mit dem der Vortrag erfolgt und dem das rockgewöhnte Sedel-Publikum nicht immer gerecht zu werden vermag.

Öfter schiessen böse Blicke aus des Sängers weisser Fratze, einmal wird gar ein Lied abgebrochen und geschwiegen, bist das Publikum selbiges tut. Diese Ernsthaftigkeit kontrastiert mit den leichtfertigen Wurzeln der Musik und lässt die Erfahrung zu etwas Anstrengendem werden. Dann hat die Combo sehr viel Routine und eine überbordende Produktivität: 22 CDs entstanden in ebenso vielen Jahren – das macht sich, dünkt es einen, in nicht immer gleich abwechslungs- und einfallsreichen Arrangements bemerkbar. Nun ist das Trio ohnehin die hohe Schule der Musik, umso wichtiger ist die durchdachte Verwertung der eingeschränkten harmonischen und Koloraturmöglichkeiten – zumal Jacques sich mit ganz wenigen Ausnahmen nur eines einzigen Registers, eben des Falsetts, bedient. Gleichwohl sind die Stücke das Hören wert, und die Band gibt auch optisch viel her; aber nicht wenige hielten es nicht das ganze Konzert durch – und verpassten das m.E. einzige Cover des Abends: «Autumn Leaves» von Prévert/Kosma, überraschenderweise als Walzer.