Klang zu Poesie – Poesie zu Klang

Neubad, 22.03.2017: Als «Musikalische Lesung» ist ein weiterer transdisziplinärer Event im Neubad deklariert worden. Das Zusammenspiel von Wort und Musik ist Jürg Halters und Fredy Studers Beweis dafür, dass es dabei nicht um Trend oder Reizüberflutung geht. Mit reichhaltigen Themen treten sie nahe ans Weltgeschehen und fordern das Publikum heraus.

Jürg Halter «gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation», heisst es in seiner Biografie. Kutti MC war sein Rapper-Pseudonym über zehn Jahre, bis er dieses 2015 beiseite legte. Das musikalische Schaffen hielt ihn aber nicht davon ab, Bücher – bis heute sechs an der Zahl – herauszugeben. Halter scheint sich der Transdisziplinarität angenommen zu haben. Eines der Bücher, aus denen er im Pool gelesen hat, verbindet Wort und Bild in Zusammenarbeit mit Huber.Huber. Neben ihm auf der Pool-Bühne: Fredy Studer, Schlagzeug-Urgestein des Schweizer Free Jazz und Jazz-Rock. Fredy Studer war und ist in verschiedenen Formationen anzutreffen, tritt vereinzelt aber auch solo auf. So 2014 im Neubad. Zusammen sind sie schon eine Weile unterwegs. Über das Konzert mit ihnen beiden und Julian Sartorius in der Bar59 berichteten Pablo Haller und Sam Pirelli.

Ping-Pong zu Beginn

Zuerst sitzt Jürg Halter mit Marie Kakinuma vor einem schmucken Tischchen. Die beiden lesen aus dem zuletzt erschienen Buch «Das 48-Stunden-Gedicht». Zusammen mit dem 85-jährigen japanischen Schriftsteller Tanikawa Shuntaro sind während fünf Tagen Japanaufenthalt Gedichte zu jeder Stunde zweier Tage entstanden. Kakinuma war Mitherausgeberin dieses Buches. Abwechselnd rezitieren Halter auf Deutsch oder Kakinuma auf Japanisch dasselbe Gedicht und Fredy Studer spielt. Er interpretiert weniger den Textinhalt als den Sprachrhythmus. Der Klang der Sprache rückt in den Vordergrund. Diesen Teil an den Anfang zu setzen geht auf. Langsam kann der/die Zuschauer/in sich mit den beiden Medien – Poesie und Klangwelt – vertraut machen. Die gelesenen oder gespielten Abschnitte sind kurz gehalten, so dass dieses «Ping-Pong» in den Bann zieht.

Zweiter Teil

«Das 48-Stunden-Gedicht» wird zur Seite gelegt und Marie Kakinuma nimmt in den Zuschauerrängen Platz. Weitergelesen wird aus den Büchern «Wir fürchten das Ende der Musik» (Wallstein Verlag, 2014) und «Hoffentlich verliebe ich mich nicht in dich» (Edition Patrick Frey, 2014). Hier versucht sich das Duo in verschiedenen Formen: Wieder «Ping-Pong», also abwechselnd Text und Musik, oder beides gleichzeitig, wobei der Text im Vordergrund bleibt. Bei letzterem wird nahe an der Musik vorgetragen, was das gegenseitige musikalische Verständnis bedingt. Obwohl die Texte und die Idee der Musik klar geformte Vorlagen bilden, schaffen es die beiden Künstler, aufeinander einzugehen und im kleinen Rahmen zu improvisieren. Musik und Text zerfliessen ineinander und ergeben eine neue, eindrückliche Stimmungslage.

Zugreifen, nicht auflockern

Kommentare zwischen den Blöcken heben sich von den Gedichten ab und sorgen zuerst für Auflockerung. Aktualitäten aus Halters Leben oder dem Weltgeschehen haben immer ironischen, manchmal zynischen Beigeschmack. Er zitiert seinen Facebook-Post zum Weltwassertag, der an diesem Tag war: «Jedes Mal, wenn du kostenlos einen Schluck vom Wasserhahn trinkst, weint in der Nestlé-Chefetage jemand eine bittere Träne. – Will mich jemand anklagen?», fragt er das Publikum.
Oder er läuft bei zwei Gedichten durch die Zuschauerkissenbänke. Bei aller Auflockerung und Verlagerung des Geschehens will die Aufhebung von Bühnen- und Zuschauerperspektive aber nicht wirklich klappen. Halter sagt im letzten Teil der Vorstellung, das Publikum könnte nicht mit seiner Peinlichkeit umgehen. Erwartet er, peinlich zu sein, wie er es ist? Ist er denn peinlich? Trauen man sich vielleicht manchmal nicht, aus der Anonymität des Zuschauers aufzutauchen und sich beteiligt zu fühlen?

Inhaltlich provokant und aktuell

Bei einem dieser beiden Gedichte, für die er die Bühne verlässt, listet Halter unzählige Länder auf. Jedem einzelnen folgt ein «zuerst», angelehnt an die «America First»-Medien-Blase. Es sei an alle Patrioten gerichtet – wobei die Schweiz fehlt. Die anhaltende Hochspannung, mit der er die Länder und ihr «zuerst» herunterrattert, ist fesselnd. Der Groove von Studer ändert mit dem Rhythmus der Silben. Auch diese scheinbare Eintönigkeit wird nicht langweilig. Schlussendlich wird das letzte der vier Text-Blätter auf den Boden geworfen und der Stuhl umgekickt. Zwei weitere persönliche Höhepunkte des zweiten Teils neben diesem Global First- (Switzerland never?-)Slam sind zwei Freestyle-Raps. Auch hier roh und direkt unterstützt von Studers Hip-Hop-artigem Groove. Minimale Veränderungen im Groove machen den Rap-Part facettenreich, aber halten ihn geradlinig. Die beiden beherrschen es, auch in dieser improvisierenden Form einen runden Bogen zu spannen.

Zwei Medien finden sich bei Halter und Studer und transportieren mit neuer Wucht. Der Grund für die Harmonie könnte darin liegen, dass sich die Stile der beiden ähneln beziehungsweise dass sie sich aneinander angepasst haben. Ironische, bildträchtige Texte, die auf erzählerisches, gegebenenfalls den Text untermalendes Spielen treffen. Die musikalische Lesung überzeugte durch gemeinsame Eigenwilligkeit: Klang wurde zu Poesie und Poesie zum Klang.