Kapitalisten gesucht!

Ueli Jäggi hat Robert Walsers «Der Gehülfe» am Luzerner Theater inszeniert. Buster Keaton hätte sich totgelacht vor lauter Weinen, und Robert Walser einen Engel in den Schnee gemacht.

Das Geld ist weg, und das einzige, das sich noch vermehrt, das sind die Pfändungsbeamten. Es steht nicht gut um die Liegenschaft «Abendstern», aber der Bankrott, der sich vor unseren Augen abspielt, ist gemessen an unseren verrückten Zeiten geradezu ergreifend schlicht, übersichtlich und nachvollziehbar. Tobler, der Hausherr, erfindet groteske Apparate, welche die Welt nicht braucht. Und der Gehülfe, der Robert Walsers zweitem Roman von 1908 den Namen gegeben hat, hilft ihm kundig und treu im Fallieren, als «seltsames Gemisch aus Feigheit und Kühnheit». Als einmal ein Interessent vorbeikommt, greis schon, fallen ihm die Prospekte buchstäblich durch die Hände auf den Boden. Ueli Jäggi und Malte Ubenauf haben den autobiografischen Roman von Robert Walser in Luzern auf die Bühne gebracht. Sie haben das Personal reduziert, die Aussenwelt konsequent ausgesperrt und damit ein Huis clos geschaffen, in dem sich schnell einmal zeigt, wie ruiniert die Beziehungen im Hause Tobler längst sind, wie bankrott jedwede Art von Mitgefühl. Die Familienblase ist geplatzt. Der Tobler ein Schiffbrüchiger, der das sinkende Schiff verlassen möchte, aber nicht merkt, dass er nur in die Kombüse wechselt («Da geht man gescheiter ins Wirtshaus»). Die Tobler eine Erkaltete, die die Stille ihrer Einsamkeit durch geknallte Türen übertönt und die ihre Tochter Silvi hasst, weil man sich «zu Liebe und Wohlwollen nicht zwingen» kann, weil «was wäre das dann für ein Gefühl, so ein Hervorgewürgtes?» Der Gehülfe schliesslich, hilflos zwischendrin, denn «man tut, was man für seine Pflicht hält».

Was für manche nach einem bräsigen Psychodrama klingen mag, ist es schon bei Walser nicht. Und weil man Ueli Jäggis Übertragung auf die Bühne kongenial nennen darf, wird auch sie mit jener freundlichen Belustigung und trockenen Heiterkeit gegeben, die man an Robert Walser so schätzt, wenn man sie denn schätzt. Dieses Drama ist nicht psychologischer, sondern atmosphärischer Natur, es ist nicht gross, sondern walserisch gekringelt, schon in der wunderbaren Sprache, die Jäggi und Ubenauf in langen, dem Originaltext entnommenen Monologen leben lassen. Eine umständliche Sprache, die die Umstände umso präziser trifft, und die vom tollen Ensemble mit genau jener nüchternen Distanz gereicht wird, mit der Walser naiv staunend, milde lächelnd oder auch mal still echauffiert auf die Welt blickte. Und natürlich: Als langjähriger Schauspieler an der Seite von Christoph Marthaler verfügt Ueli Jäggi über den Nerv und die Komik, das Spiel über 130 pausenlose Minuten als ein langes, stoisches Largo einzurichten. Da mag alles den Bach runtergehen, pressieren tut es gar nicht. Manchmal stehen die Figuren minutenlang im Windfang vor der Tür, oder sie sagen und regen, nachdem Tobler mit «Was ich eigentlich noch sagen wollte...» angehoben hat, eine schöne lange Weile lang gar nichts. Oder dann starrt Tobler eher paranoid als sehnsüchtig aufs Wandtelefon, während sein Gehülfe, was der Chef darum nicht sieht, seiner Frau die Stirn aufs Knie legt. Das ist ein angemessen behutsames Bild für die erotischen Flüchtigkeiten, die Walser auch im Roman nur angedeutet hat. Dazu knurrt Martin Schütz’ biedermeierliche Stubenmusik aus Geige, Laute und Ukulele, als habe sie schon zu lange keine Gemütlichkeit mehr erlebt.

Man möchte stundenlang verweilen in diesem Panorama, mit diesen Solitären, die sich immer wieder in den langsamsten Slapstick verwickeln, den man je gesehen hat: Da kämpfen zwei Todmüde ums letzte Hemd, andere falten Leintücher und bauen diesen Akt zu einer denkwürdigen Hommage ans Fahnenschwingen aus, und das, kurz nachdem Silvis schöner, durch den Gehülfen entzündeter 1.-August-Lampion bis aufs Skelett abgebrannt ist. Da regnet es die Rechnungen, die Tobler auf der Suche nach Zigarren aus den Taschen fallen, auf den entlassenen früheren Gehülfen namens Wirsich, doch taucht ebender Wirsich durch Türen, für die er keinen Schlüssel hat, plötzlich wieder auf, während der Hausherr durch eine unsichtbare Macht – man vermutet die Macht der Erfindungen, die den anderen immer lächerlicher, ihm aber immer monströser werden – durch jene Türen gezerrt wird, die sich ihm später gar nicht mehr erst öffnen. Wie überhaupt die vielen Türen und Treppen auf Werner Hutterlis ganz famoser Bühne neckisch auf die Boulevard- und Verwechslungskomödie verweisen, bloss dass hier, in der Villa Tobler, eben längst nichts mehr drunter und drüber geht und trotzdem alles aus den Fugen ist. Das ist, man darf schon sagen, immer wieder urkomisch. Am Ende gibt Tobler einen letzten Befehl aus: «Schreiben Sie: Kapitalisten gesucht!» Silvi versucht ihre Geige dem Pfändungsbeamten mitzugeben, und der alte und der neue Gehülfe stehen im Windfang. Die Hausherrin gibt ihnen noch eins auf den Weg: «Denken Sie ein bisschen an mich, wenn Sie fort sind.» Aber da sind sie schon fort.

Weitere Aufführungen: www.luzernertheater.ch