Jazz Festival Willisau - der Free-Ticker, Teil 2

Jazz Festival Willisau, 31.08.-03.09.2017: Herbstbeginn & Sommerschluss bedeuten Jazz und Improvisation! Null41.ch widmet der 43. Ausgabe des Jazz Festival Willisau den langsamsten, aber leidenschaftlichsten Ticker der diesjährigen Festivalsaison. Freiheit ist Freude! 

Von Silvan Schmid & Stoph Ruckli

Jazz Festival Willisau. One love. Kaum ein Event wie dieser schafft es jedes Jahr, Überraschungen bereitzuhalten. Egal, ob beim Wetter, bei der Kulinarik (Pirmins fermentierter Hacktätschliburger) oder natürlich beim Programm: Willisau ist Kult! Dementsprechend stürzen sich die null41.ch-Kollegen Silvan Schmid & Stoph Ruckli – Schlagzeug & E-Bass – als schreiberische Rhythmsection in das diesjährige Angebot. Der Eröffnungsevent am vergangenen Mittwoch wurde bereits hier rezensiert, Donnerstag und Freitag hier und nun geht's an die letzten zwei Tage.

 

Die Zeit der werdenden Originale: Der Willisau-Samstag, 02.09.2017

Piano, Piano

Das erste Nachmittagskonzert auf der Hauptbühne erfüllte die Erwartungen von klanglicher Schönheit, kompositorischem Feingefühl und unzimperlichem Willen, so richtig in die Tasten zu greifen: Kris Davis & Angelica Sanchez. In ihren Kompositionen haben die beiden Pianistinnen ihre Art – und damit Eigenart ­– gefunden. Das Solo der einen über ein Harmoniegerüst der anderen führte zu gemeinsamem Ausbrechen, wobei das Ganze wiederum mit Leichtigkeit in ruhigen Passagen mit atemberaubendem Timing abgefangen wurde. Immer spannend und offen für das Unerwartete. Keinesfalls waren die beiden Musikerinnen klanglich einseitig, wie es die Voraussetzungen gleicher Instrumente hätte erwarten lassen können.

Kris Davis & Angelica Sanchez

Bild: Marcel Meier

Künstlerische Grösse bewies Kris Davis, als sich ausgerechnet im leisesten Teil des Konzerts ein Besucher entschied, aufzustehen, und mit seinem Gummisohlen-Quietsch-Abgang bis zur die andere Saalseite zu hören war – und natürlich auch bis auf die Bühne. Davis passte sich abgeklärt seinem Schritttempo an. Es kommentiert ein anderer Zuhörer: «ein Mutiger».

Nach diesem unsensiblen – nicht einmal mutigen – Abgang war der Fokus bald schon wieder auf die Bühne gerichtet. Schwer zu ermitteln war, was auskomponiert, teil-komponiert (eine mögliche Form davon: die Gliederung der Abschnitte und deren ungefährer Verlauf) oder frei improvisiert war. Diese Mixtur wurde ein berauschender Nachmittagscocktail. (Kollege Stoph hätte gesagt: gleich noch einen Bahama Mama, bitte!)

Kurze Pause ...

Weiter ging die Klangforschung – Diesmal: frei improvisiert.

Mit dem Trio LDP featuring Thomas Lehn standen vier erfahrene Herren auf der Willisauer Hauptbühne. Das Trio dürfte spätestens nach der Amerika-Tournee unter dem Titel Listening (Nebenprodukt war das Logbuch dazu) im Jahr 2015 zusammengeschweisst sein. Mit dem Zuzügler Thomas Lehn wurde es umso spannender.

Urs Leimgruber (reeds) stand nicht zum ersten Mal auf der Willisauer Bühne. Seine Klangwelten sind bekannt und berüchtigt: von Knutscherei bis Speichelblubbern war auch am Samstag einiges dabei. Jacques Demierre (p) sorgte heute teils für explosive Wendungen, teils für einen tiefen Sog. Und Barre Phillips (b) drohte schon in der Gemengelage an Sounds in Vergessenheit zu geraten, da hob er seinen Arm, drehte seinen Kopf lauschend ins Profil oder liess seinen Kontrabass halbe Pirouetten tanzen. Seine 82-jährigen Hände machen wohl keine hohen Dezibel mehr mit. Trotzdem hatte er seine Momente. Seine prüfenden Blicke zum Kollegen Thomas Lehn blieben nicht unentdeckt. Der Special Guest war fast als unsensibel zu beschreiben. Er beanspruchte im ersten Set viel Platz für seine analogen Synthesizer. Seine Sounds muss man erklären – so gut es geht. Denn so richtig zu verstehen ist es dann doch nicht: Wie Morsezeichen sendete Lehn seine Arpeggios und White-Noise-Seqzenzen in den Raum. Ständig die Knöpfe seines Pults drehend oder auf Klaviaturen hämmernd. Manchmal wurde das angenommen von den Mitmusikern, leider erschien aber einiges als technische Spielerei; ausgeführt mehr für sich selbst und seinen Metakosmos als für die Gruppe.

Trio LDP & Thomas Lehn

Bild: Marcel Meier

Damit von den Einzelnen zu deren Zusammenspiel: Im ersten Set formte sich erst nach 15 Minuten ein griffiger Klangkörper. Und der sog alsbald alles in sich ein. Ein Schwarzes Loch in Klanggestalt. Wie eine Wand baute sich ein Gebilde auf, das düster durch das Piano Gewummer, aber auch hell leuchtend durch ausgehaltene Sopransaxofon-Schreie, und beweglich durch die diesmal sehr passenden ungreifbaren Synthesizer-Effekte wirkte. (Phillips am Bass war hier eben nicht mehr zu hören.) An diesem frühen Höhepunkt konnten das Quartett dann anknüpfen – als geschlossene Gruppe. Auch Lehn liess mehr Platz. Somit war das zweite Set eine Verschmelzung der individuellen Klangspektren. Man könnte sagen: eine Formsache für die eingespielten und erfahrenen Musiker. Und ein Genuss.

Die erste Etappe ist geschafft. Jetzt gleich nochmals zwei Blöcke.

Aber vorher wurde die Zwischenzeit am Nachmittag von Heligonka auf der Zeltbühne bespielt. Die beiden Luzerner Stefan Haas und Jesco Tscholitsch beschreiben ihre Musik als New-Folk-Pop. Bei den langsam frierenden Gästen kam das gut an, und es wurde munter mitgewippt. Auszeichnen tat sie ihr Instrumentarium: Die grosse Pauke und die Heligonka (ein tschechisches Akkordeon) sorgten für Abwechslung im Vergleich zu den üblichen Bühnenbildern. Dazu kamen noch Saiteninstrumente und Taktschläge auf die Pauke und Cymbals: Eine moderne Willisauer Polka – fast schon so original wie die Ringli.

Der Abend war erreicht

Zeit für das Trio Kali mit den aufstrebenden jungen Musikern Raphael Loher (p), Urs Müller (eg) und Nicolas Stocker (dr). Der Anfang war mitreissend: in repetitiven Patterns schaukelte es sich hoch, bis, durch ein unsichtbares Zeichen, mit einem Schlag das ganze Gebilde in eine neue Form eintauchte. Und schon war man voll drin. Es bewegte sich fort in verschiedenartigen Blöcken: polyrhythmisch verschachtelte Teile, die sich in leise Zwiegespräche zwischen Einzeltönen verwandeln konnten. Die Drei schienen gekonnt mit ihren Patterns zu jonglieren. Mit Gefühl für Zeit und Dynamik in ihren Kompositionen. – waren es denn Kompositionen?

Das Trio erschuf seine Formteile mit definiertem Klangmaterial und durch Interaktion. Oft bauten die Musiker eine Fläche auf, um diese dann abrupt, wie am Anfang, oder langsam wieder zu dekonstruieren. In dieser Zeit durfte einiges passieren: grooven, treiben, abtauchen oder emporsteigen, mal an einen Technokeller, mal an den Schweizer Zen-Funk heiligen Nik Bärtsch erinnernd. Präsent war die Reminiszenz des Klangmaterials der freien Improvisation.

Kali

Bild: Marcel Meier

Das Zusammenspiel durfte aber nicht zu frei sein. Völlig Unvorhergesehenes kam nur in definierten Soloteilen zum Zug. Und da durfte jeder nur einmal abdriften. Dieser Abstrich zahlte sich dafür aus in der klanglichen Finesse. Denn klanglich waren Kali sehr aufeinander abgestimmt. Die diversen kleinen Cymbals des Schlagzeugers Stocker erklangen auf der selben Tonhöhe wie die angeschlagenen Tasten des Pianisten Loher. Der holte mit seinen Präparationen bisher Ungehörtes aus dem Instrument. Bogengestrichene Cymbals vermischten sich mit Obertönen des Klaviers und der hallenden Gitarre. Übrigens ist es allen Gitarristen zu empfehlen, zwei Verstärker hinter sich zu haben. Das sah so stark aus! Und der Sound erst ... Am Ende war es schwer auszumachen, wer genau was zu der Klangwolke beitrug. Unerprobt wäre das wohl nicht zu erreichen gewesen.  

Diesbezüglich waren die nächsten Jungs etwas flexibler: das Peter Evans Ensemble.

Seine Reihen waren gefüllt mit grossen Namen: Ron Stabinsky (ü, Mitglied der Band: Mostly other People do the Killing (heisser Name, heisse Band!), Tom Blanacharte (b), Sam Pluta (electr; Rocket Science mit Evan Parker, Craig Taborn, Peter Evans), Levy Lorenzo (perc, electr; Interational Contemporary Ensemble) und Jim Black (dr; Alasnoaxis). Das waren jetzt noch mehr Namen ... in etwa so fordernd ging's weiter: Neue Musik, zeitgenössicher Jazz, Komposition und Improvisation. Alles zugleich, in rasantem Tempo und ohne die Übergänge gross mitschneiden zu können. Den Anfang machte die elektronische Abteilung unter Federführung Sam Plutas. Ein kleines Brodeln entwickelte sich zum Flächenbrand, bisher Gehörtes demontierend. Und dann hatte die Lunte Feuer gefangen: Aus der unübersichtlichen Gemengelage wurde ein prachtvoll groovendes Feuerwerk. Aber nicht, wie es hierzulande groovt, nein, keinen bekannten Schemen unterworfen. Bis die durch das Trompetenrohr geblasenen Salven wie die eines Maschinengewehrs wieder die Dekonstruktion einläuteten.

Peter Evans Ensemble

Bild: Marcel Meier

Peter Evans packte noch als Solist sein Können auf dem Instrument aus. Einzigartig. Das alles lässig mit Sonnenbrille. Solo konnten während des einteiligen Sets alle einmal spielen. Jeder bewies, wie er sein Instrument beherrschte. Die Band dabei zweckdienlich begleitend, mal ruhig, mal mittreibend. So wirkte das Set nicht eintönig, wie es eine Free-Jazz-Nummer zuweilen tun konnte. Auch nicht zu flippig, weil die – wenn auch abstrakten – Themen entwickelt und vervielfältigt wurden. Ein Spagat zwischen hochkomplexer Komposition und Kollektivimprovisation. Auf dem Balanceseil der zur Flexibilität bestimmten Grössen des Rhythmus' und der Tonalität. Und man konnte sich sicher sein, dass sie wussten was sie taten. Das ist ihr Sound. Vielleicht der Sound des 21. Jahrhunderts? Keine Zugabe, sie gingen so schnell wie sie kamen. Pünktlich um 23.00 Uhr.

 

Power to the People: Der Willisau-Sonntag, 03.09.2017

Das Jazzfestival biegt auf die Zielgeraden ein – passend zum Sonntag zeigt sich hierfür auch endlich einmal noch die Sonne. Perfekt für das afrikanisch-angehauchte Projekt von Veronika's Ndiigo, die nach dem Intimities-Konzert von Spacetet nun die Zeltbühne bespielte. Im Anschluss ging es für die letzten beiden Programmpunkte in der Festhalle weiter. Dort gaben Anna Högberg Attack richtig Gas. Die sechs Schwedinnen – zweimal Tenorsax, einmal Altsax, Piano, Bass, Drums – boten definitiv eine Show mit ordentlich Schmackes. Gerade in der ersten Hälfte gab es kaum eine Atempause. Solo um Solo, eine freie Impro, dann wieder kollektiv, dort ein Akzent, hier ein Groove; das war eine Attacke erster Güte auf die auditiven Geschmacksknospen. Besonders angenehm erschien, dass im Gegensatz zu so vielen Formationen, wo förmlich um Soli gekämpft wird, hier ein sehr kooperatives Verhältnis herrschte; jemand setzte zum Spielen an und wurde sogleich ermutigt: «Komm, mach doch gleich ein Solo draus». Yes!  

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Bild: Marcel Meier

Dementsprechend bezeichnete die bestens gelaunte Högberg ihre fantastische Band auch als «ihre Familie» und übersetzte dies gleich ins Stück «Familjen». In einer Familie kann es durchaus hitzig zugehen, gewünscht herrscht aber oft auch Harmonie: In der zweiten Hälfte des Sets setzte das Sextett aus Schweden auf ruhigere Klänge, bei denen die herrlichen Themen noch stärker glänzen konnten. Doch ehe die Energie ins Schwelgerische driftete, legte Anna Lund am Schlagzeug los und der Drive war wieder präsent – hui, diese Frau kann swingen! Hierbei wurde sie herrlich unterstützt von der energetischen Elsa Bergmann am Bass, der die Power nie auszugehen schien, und dem intelligenten Spiel der Lisa Ullén am Klavier, welche die rhythmische Natur ihres Instrumentes bestens einzusetzen wusste. So viel Feuer wäre eigentlich ein idealer Festivalabschluss gewesen. Doch für diesen war ein Altmeister zuständig: Schlagzeuger Andrew Cyrille.

Anna Lund
Bild: Marcel Meier

Zugegeben: Es war ein lustiges Bild, als nach den Schwedinnen, die förmlich auf die Bühne hüpften, nun das Andrew Cyrille Quartett den Schauplatz betrat. Frontmann Cyrille und sein Tastenmann Richard Teitelbaum gehen beide auf die 80 zu, dementsprechend gemütlich bewegten sie sich zu ihren Instrumenten. Kontrastierend Ben Street (b) und Ben Monder (g), beide noch etwas jünger als ihre Mitmusiker. Dass das Alter beim Musizieren selbst zur sekundären Sache wird, war dann aber beim Konzert klar zu hören. Die ersten beiden Kompositionen – je eine von John Coltrane und Bill Frisell – zeigten bereits eine experimentelle Fahrtrichtung. Eingangs faszinierte speziell Teitelbaum mit interessanten Synthiesounds, auf die er in der Folge aber leider nicht mehr zurückgriff. Die Cyrille-Eigenkomposition «Dazzling» schien dann Teile des Publikums vergleichsweise zu überfordern. Hierbei improvisierten die individuellen Musiker solo oder als Duo und Trio, während vor allem Cyrille nur Akzente gab. Viel Raum und Luft war das Resultat. Ein interessanter Ansatz, jedoch etwas behäbig. Dass letzteres Adjektiv jedoch so gar nicht auf den Mann am Schlagzeug zutreffen wollte, bewies der 78-Jährige in der Folge.

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Bild: Marcel Meier

«Lemme play a little drum solo», verkündete er und legte sogleich los. Das Stück, inspiriert vom Kongo, setze sich aus einer einzigen Kernphrase zusammen, die durch Repetition mehr und mehr an Kraft gewann. Melodiös, machtvoll, magisch: So muss ein Schlagzeugsolo sein. Kein progressiver High-Speed-Shit, kein hyperschnelles Rumgewichse. Beständig und belebend sind die Stichwörter. Das schien Cyrille im Anschluss gleich selbst zu vitalisieren. Da hüpfte dieses strahlende Männchen plötzlich hinter dem Schlagzeug rum, machte gar Turnübungen. Toll! Gen Schluss gefiel vor allem noch die Komposition von Ober-Cat Ben Street namens «Say» (wie jedes Stück ordentlich buchstabiert von Andrew Cyrille); ein Rubatostück mit einer Art «Ankerakkord», der von einem oder zwei Instrumentalisten gespielt wurden, während die anderen beiden darüber solierten. Wenngleich im Anschluss an das Konzert nicht alle Zuhörerinnen und Zuhörer von der Finalissima überzeugt waren, gefiel diese durchaus und liess vor allem auch den Geist der Vielseitigkeit in Willisau spüren. Dieses Festival fasziniert durch seine Ruhe und Unaufgeregtheit, deren Herzen aber stets mit Überraschungen und Exklusivitäten pulsieren. So freut mensch sich auf das nächste Jahr und verabschiedet sich aus diesem mit vielen Eindrücken sowie noch mehr Vorfreude.