Jazz Festival Willisau - der Free-Ticker, Teil 1

Jazz Festival Willisau, 31.08.-03.09.2017: Herbstbeginn & Sommerschluss bedeuten Jazz und Improvisation! Null41.ch widmet der 43. Ausgabe des Jazz Festival Willisau den langsamsten, aber leidenschaftlichsten Ticker der diesjährigen Festivalsaison. Freiheit ist Freude! 

Von Silvan Schmid & Stoph Ruckli

Jazz Festival Willisau. One love. Kaum ein Event wie dieser schafft es jedes Jahr, Überraschungen bereitzuhalten. Egal, ob beim Wetter, bei der Kulinarik (Pius' fermentierter Hacktätschliburger) oder natürlich beim Programm: Willisau ist Kult! Dementsprechend stürzen sich die null41.ch-Kollegen Silvan Schmid & Stoph Ruckli – Schlagzeug & E-Bass – als schreiberische Rhythmsection in das diesjährige Angebot. Der Eröffnungsevent am vergangenen Mittwoch wurde bereits hier rezensiert, nun geht's an die kommende Anlässe mit diversen Schmankerl. Also auf in die erste Runde: 

Schnaufen & Trancen: Der Willisau-Donnerstag, 31.08.2017

Über 50 Musiker_innen beinhaltet das Insub Meta Orchestra, und es wächst stetig. Über 50 Personen, die zusammen sounden – welch gigantischer Klangkörper, welch spannende Ausgangslage! Spannend auch, dass diese Gruppe nicht auf, sondern vor der Bühne spielen sollte. Will man dem Getuschel um sich herum Glauben schenken, so ist das sogar eine Willisau-Premiere: Noch nie solle es eine Performance mitten im Saal selbst gegeben haben. Die Vorfreude wächst, während das Who's Who der grösstenteils welschen Jazzszene (mit internationaler Verstärkung) in Form von rund 30 Musizierenden den Saal betritt. Kontrabassistinnen und -bassisten waren da zu sehen, Schlagzeugerinnen, Klarinetten, Violinen, Gitarren, diverse Elektroinstrumentarien, Objekte aller Art, ein Harmonium undundund. Jetzt geht's also los, dachte man sich.

Insub
Bild: Marcel Meier

Und dann... Schnaufen. Schnaufen. Schnaufen. Eine Atem- und Soundübung läutete das Konzert ein. Interessant, der Versuch einer Meditiation? Dann: Conducting. Cyril Bondi am Harmonium gab Einsätze, dazu konnten die Musiker_innen spielen oder nicht. Alles klar. Das Konzept ist sicherlich interessant, aber in der Wirkung etwas gar bemüht. In der Folge nahm die Dynamikebene kaum zu, der Sound blieb immer sehr minimalistisch und weit, weit unten. Vor allem in den Pausen zwischen den Einsätzen wirkte das Dargebotene direkt beschämend. Besonders dann, wenn im Saal die Bierflaschen aufploppten, Handys losdüdelten (fast ein musikalischer Höhepunkt, als sich ein Handyklingelton mit den Sounds vermischte) oder Zuhörer ihren härtesten Husten zum Besten gaben. Und dann zum Schluss doch noch so etwas wie Aufregung mit einer dissonierenden Masse an Klängen.

Luft, Pausen, Dissonanzen. Was ist das Ziel dieser Aktion, dieses Orchesters? Subtil schön und gut, minimale Veränderungen okay; aber das geht besser. Mehr Bewegung wäre spannend gewesen, grössere Klangwelten, Kontraste, ein vielseitigeres Konzept. Die Meinungen im Publikum waren auf jeden Fall klar abgesteckt. Ein Grossteil konnte so gar nichts anfangen mit dem Konzept. Doch gab es auch Gegenstimmen: Zwei der drei Mitglieder von Kali, die am Samstag spielen, genossen zumindest Teile des Konzertes am Boden liegend mit geschlossenen Augen. Ein junger Mann redete gar vom besten Konzert, das er in den letzten drei Jahren gehört habe. Ob ihm da jener Zuhörer, welcher in der vordersten Reihe eingeschlafen ist, zustimmen könnte? Wie auch immer: Minimalismus, feine Bewegungen und trotzdem Spannung: Dass das möglich ist, bewies die nachfolgende Band The Necks.

Marcel Meier Necks
Bild: Marcel Meier

The Necks sind Kult. Seit über 30 Jahren arbeitet dieses Trio zusammen und nutzt die Macht der Repetition und des Minimalismus wie kaum eine andere. Jedes Konzert dauert mindestens an die 40 Minuten, oftmals auch in Form von zwei Sets – dabei ziehen die drei Australier Chris Abrahams (p), Lloyd Swanton (b) und Tony Buck (dr) ihr Publikum in sphärische Ambient-Atmosphären. An jenem regnerischen Tag im Willisauer Festsaal war es, als ob ein See geboren wurde: Zuerst ein paar Tropfen, die sich ohne kaum wahrnehmbare Bewegungen zu einem Teich formierten und schliesslich in einem gigantischen Gewässer aufgingen. Wenn Buck mit seinen Sticks noch über die Standtomb knarzte oder mit den Schellenringen arbeitete, wähnte man sich gar auf einem alten Piratenschiff in den Weiten des Ozeans. «Ohioan» hiess das Stück, und es war ein wunderbares Trance-Musikerlebnis.

Für solche Konzerte pilgert mensch nach Willisau. Gebannt betrachtete man die Bewegungen der drei Musiker, die dort oben sportliche Höchstleistungen erreichten. Unglaublich, wie lange ein Tony Buck mit seinen Sticks die gleichen intensiven Bewegungen ausführen kann, wie Chris Abrahams mit der Gelassenheit eines Geistlichen sein Instrument auskostet und wie Lloyd Swanton den behäbigen Saitenkasten die sanftesten und zugleich stärksten Klänge entlockt. In so einer Band ist dementsprechend fast alles möglich. Aber eben nur fast: Als Tony Buck nach der Autogramm- und Austauschrunde draussen wieder in die abgeschlossene Halle wollte und wie wild an der zugesperrten Tür zu reissen begann, musste trotzdem noch ein Helfer hinspringen und ihn reinlassen. Und damit auf in den kommenden Festivaltag! 

Eigenbrötler und Engel in Zivil: Der Willisau-Freitag, 01.09.2017

Auf der Rathausbühne Willisau gleissen die Gitarren: Christy Dorans Duesenberg Starplayer TV auf der einen Seite, Noël Akchotés Fender Telecaster auf der anderen. Zusammen performten die beiden Ausnahmegitarristen ein Duo-Set im Rahmen der Intimities-Konzerte des hiesigen Jazzfestivals. Da gab es Ausflüge in die Americana, die Freie Impro wurde reichhaltig ausgekostet und auch Effektespielereien kamen nicht zu kurz. Jedenfalls bei Doran: Der irischstämmige Gitarrengott lotete einmal mehr das volle Spektrum seines Instrumentes aus und öffnete Akchoté eine Tür um die andere. Doch diesen schien das wenig zu interessieren: Zwischen zwei Fender-Amps sitzend, sah der Franzose aus wie eine uneinnehmbare Burg, und so verhielt er sich auch: zuhören oder Blickkontakt gen Doran, der dies seinerseits immer wieder versuchte?

MarcelMeierDoran
Bild: Marcel Meier

Vergiss es. Lieber stoisch auf den eigenen, mit der Zeit starren Ideen verweilen, mit giftig-grellem Telecaster-Ton – ein Dachs, der nicht aus der Höhle kommen wollte. Da konnte sein Counterpart noch so tolle Lockmittel nutzen, egal ob er mit dem Bogen herrliche Klanglandschaften malte oder Two-Hand-Tapping-Gebilde der Sonderklasse baute; Akchoté wollte nicht. Ein einziger giftiger Blick vom ihm signalisierte lediglich: Das Set ist jetzt zu Ende. Dieses Schauspiel – oder eher die stickig-schwüle Luft im Dachstock der Rathausbühne – schien auch einem Zuhörer zu viel zu werden, der mitten im Set auf den Rängen zusammenbrach. Glücklicherweise waren viele gute Seelen und ein Arzt (aka der Engel in Zivil) im Raum, sodass der Herr das Konzert ohne weitere Komplikationen fertigschauen konnte nach seinem Kreislaufkollaps.

AmidonMarcelMeier
Bild Marcel Meier

Da lief die Zusammenarbeit von Sam Amidon, Shazhad Ismaily und Ben Goldberg wesentlich besser. Kurz gesagt war das Dargebotene ein Mix aus amerikanischen Traditionals, Klezmer und Freier Improvisation. Dabei hegten die drei Musiker die Lust zum Multiinstrumentenspiel; Amidon sang (beeindruckend stark), spielte Akustikgitarre, Banjo und Violine, Ismaily – unter anderem bekannt als Bassist bei Marc Ribot – bediente das Schlagzeug, den Bass sowie eine E-Gitarre, Goldberg wechselte zwischen Klarinette und Bassklarinette. Die interessante Ausgangslage wurde gut ausgenutzt, aber nicht sehr gut. So teilte sich das Trio wie folgt auf: Amidon bediente die traditionelle Ecke, Ismaily die experimentelle und Goldberg jene des Keepers, der das Gespann zusammenhielt. 

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Bild: Marcel Meier

Das Problem an der Geschichte war, dass nie so etwas wie Drive aufkommen wollte – der Push over the Edge fehlte schlichtweg, um dieses solide Konzerte zu einem superben werden zu lassen. Bestes Beispiel: Little Johnny Brown; kaum kam der Song in Fahrt, wurde er schon wieder abgewehrt. Gerade Ismaily sperrte sich an diesem Abend extrem, verlor sich stellenweise am Schlagzeug, spielte gar komplett an seinen Bandkollegen vorbei; ob gewollt oder ungewollt, sei bei diesem Wundermusiker offengelassen. Was ihm an technischer Finesse am Schlagzeug fehlte, schien er mit Innovation wettmachen zu wollen. Sein Solo gemischt mit einem Rezital war dafür aber viel zu kurz. Trotzdem: Unter dem Strich gefiel dieser Gig als angenehmer Appetizer.

Dann schlug die Uhr 21:45. Die Zeit von Flury and The Nuborns. Doch trat da kein Arno Troxler zum Ansagen auf die Bühne. Nein, Roman Bruderer (perc), Ephrem Lüchinger (keys) und Lionel Friedli (dr) liefen zu ihren Instrumenten und begannen einen herrlichen Afro-Groove zu spielen. Die Saalbeleuchtung noch voll am Brennen, das Bühnenlicht dunkel. Mit dem Dazutreten von Marc Flury und seiner Posaune nahm die Session Fahrt weiter Fahrt auf, es begann ein Lichtspiel, projiziert von Laura Büchi, im Verlauf vervollständigten  Andrina Bollinger (voc) und Sarah Palin (voc) die Besetzung des Abends. Das war überraschend, das war kraftvoll, das war spannend: So muss ein Konzert beginnen! 

flury
Bild: Marcel Meier

Für die weiteren beiden Stücke besann sich der schwer erkältete Flury auf Phrasen von Stücken auf Schellackplatten, die er auf der Bühne mit einem einem Grammophon abspielte. Ein interessantes Konzept, auf das in der Folge aber nicht mehr eingegangen wurde. Stattdessen spielte das Sextett Musik, untere anderem gewidmet an die Berge, und weitere ruhigere Songs, durchaus auch poppig. Entfernt erinnerte der Sound durch die Stimmfarben von Bollinger und Palin plus die Afro-Einflüsse an das schwedische Duo The Knife. Ein richtig guter Gig: Friedli spielte auf einem eigens aus Afrika mitgemachten Holzblock 11/4-Beats, Lüchinger lotete seine verschiedenen, vielseitigen Tasteninstrumente aus und Bruderer beendete den Gig mit einem kraftvollen Djembe-Solo. So muss das sein, gerne mehr davon! 

baze
Bild: Stoph Ruckli

Jetzt könnte mensch sich sputen und gen Bahnhof rennen, um den letzten Zug nach Luzern zu erwischen. Er oder sie könnte aber auch die Late-Spot-Bühne aufsuchen, wo ein ganz besonderes Schmankerl den Abschluss machte. Dort spielte nämlich Rapper Baze auf mit seiner ab-ar-tig guten Band, bestehend aus Fabian Bürgi (dr), Fabian Müller alias Krake (p) und Toni Schiavano (eb). Diese drei Jungs nagelten jeden Song as tight as fuck. Holy macarony, was für eine Power! Die Willisauer Jugend scheint das aber irgendwie nicht so recht zu kapieren – ein reges Geplaudere bis in die vorderste Reihe war das Resultat; ein Desaster. Aber nicht mit Basil «Baze» Anliker, frischgekürter Preisträger des bernischen Musikpreises: Der sprach die Misere gezielt an, schüchterte im ersten Moment das Publikum ein, lockerte es dann wieder auf – und hatte es ab diesem Zeitpunkt in der Hand. Ein Weg gegen das nervige Getraschte an Konzerten? An diesem Abend hatte er funktioniert. Und man nahm erfüllt den Nachtbus nach Luzern.