Im Ohr die radikale Nachtigall

Neubad, Luzern, 11.12.2019: An der letzten Neubad Lecture des Herbstsemesters erklärt Dr. Patricia Jäggi die Radikalität des Vogelgesangs. Eine kleine Runde lauscht Nachtigallen und den zugehörigen Ausführungen Jäggis.

Die Neubad Lectures machen einmal pro Monat die Luzerner*innen gescheiter. Nach grossem Publikumsandrang im November zum Thema Völkermord an indigenen Menschen in Kanada bespielen die Organisatorinnen Aline Stadler und Gina Dellagiacoma mit der Dezemberausgabe einen exklusiven Kreis von Vogelgezwitscher-Enthusiast*innen.

«Die Radikalität des Vogelgesangs» nennt die eingeladene Wissenschaftlerin Dr. Patricia Jäggi von der Luzerner Hochschule Musik ihren 45-minütigen Vortrag über den Schall von Vogelgesang und dessen Widerhall in der Kultur des Menschen. Die Begriffe «Schall» und «Widerhall» stammen aus Theodor Storms Gedicht «Nachtigall». Mit diesem beginnt Jäggi ihre Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte vom Vogelgezwitscher.

Neubad Lecture Dezember 2019

Unterbrochen durch eingespielte Audio-Beispiele referiert Patricia Jäggi kompetent durch die Thematik ihrer Forschung. Vögel singen nicht nur, dass den Storms und Brentanos eine Metapher für die süsse Liebe geboten wird, sondern eröffnen mit ihren Lauten einen Kosmos, der von dadaistisch anmutenden Verschriftlichungen des Gezwitschers (tschilp tschilp) über die exakte wissenschaftliche Darstellung (Sonagramm) bis zur menschlichen Imitierung und Adaption des Gesanges reicht.

Eine solche Auseinandersetzung mit Vogelgesang zeigt Patricia Jäggi auf Video: «Interspecies Musician» nennt sich David Rothenberg. Man sieht ihn im Feld stehen, unter einem Baum. In den Ästen sitzt die Nachtigall. Und die beiden, die Nachtigall und Rothenberg mit Klarinette, spielen ein Duett. Der Musiker betrachtet den Vogel als Gesangspartner, macht aus ihm ein ebenbürtiges Gegenüber.

Kunst mit Vogelgesang machen auch andere. Es wird versucht, die Tonalität der Vögel möglichst adaptiv in die eigenen Werke zu integrieren. Jäggi berichtet von klassischen Musikern und auch avantgardistischen Noise-Künstlerinnen, die das tun.

Doch wieso tun die das? Theodor Storm hat im Gesang der Nachtigall die ästhetische Entsprechung für seine innige Liebe wiedergefunden. Die kontemporäre Kunst habe unter anderem einen weit pragmatischeren Grund, erklärt Patricia Jäggi. Die «ökologische Katastrophe» sei das Thema, die Vögel stehen in den kulturellen Adaptionen ihrer Gesänge für die vom Menschen versehrte Natur. Jäggi erklärt die Möglichkeiten des In-Beziehung-Setzens von Fauna und Menschen durch die Vogelgesang-Kunst. So könne die Fatalität des menschlichen Eingreifens in die Natur gezeigt werden. Dies sei die «Radikalität des Vogelgesangs».

Unter warmen Applaus des rund 20-köpfigen Publikums schliesst Patricia Jäggi ihren Vortrag pünktlich nach 45 Minuten. Die Neubad Lecture war dieses Mal adressiert an den kleineren Kreis der Ornitholog*innen-Zunft. Die Veranstaltung gab einen Einblick in eine Welt mit eigenwilliger Ästhetik. Zum Schluss zeigt sich das Publikum sehr zufrieden, beteiligt sich artig an der Fragerunde und verlässt schliesslich zügig den Keller. Noch im Ohr die radikale Nachtigall.

Neubad Lecture: Eröffnung Frühlingssemester
(Valentin Groebner: «Der Tourismus hat ein Problem»)

MI 15. Januar, 20 Uhr
Neubad, Luzern

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