Ideen für neue Ideen – Der Umzug der Kulturoffensive: Kultur tut Not!

Am Samstag fand er endlich statt, der Umzug, von dem alle so lange redeten und bei dessen Organisation so viele derart engagiert mitgemacht haben. Christine Weber und Sam Pirelli liefen mit – ach, schön wars!

(Bilder: Christine Weber)

Weber: «Uah! Hör mal – da geht was ab», sagt eine junge Frau unter der Egg zur Kollegin. Am anderen Reussufer heult zum fünften Mal die Sirene los. Neugier bricht unter Touristen und Einheimischen aus. Samstag, 17. April, um 16 Uhr. Ein Polizeiboot dreht auf und rast Gischt spritzend dem Ufer entlang. «Plöffer», schnaubt die Frau und nippt am Cüpli. Die Sirene gehört zur Inszenierung des bunten Umzugs der Kulturoffensive, der Polizeiboot-Einsatz zur Inszenierung der Polizei.

Sie hat übrigens grobe Fahrzeuge beim Historischen Museum und in der Neustadt platziert. Zum Einsatz kommen sie heute nicht, alles verläuft friedlich. Und bunt. Und vermummt: Verteilt werden einfache Papiermasken mit geschichtsträchtigen Kultursymbolen. Da ist der Boa-Elch, den man sich überziehen kann, oder die Geissmättli-Geiss, die keck ihre Hörner gegen das Luzerner Theater streckt, von wo der Umzug startet. Eine bunte Menge (ja: tatsächlich bunt!) hat sich versammelt, gegen 400 Leute. Vor Ort werden viele Sprechblasen verteilt, die witzigsten (« … weil ich sonst einsam bin») und blödsten (« … weil Luzern besser brennt als Züri») Sachen stehen da draufgeschrieben, sie erklären, warum man in die Offensive geht. Auf den Fotos sieht das messerscharf aus, in der Realität fast genauso. Ein Comix-Reigen und ein bunter Haufen, der durch die Stadt zieht: Originell, kreativ, innovativ – genauso präsentiert sich diese «Demo» denn auch. Endlich mal was anderes als die depro-mässig-schwarz-frustrierten Kids, die sich das Thema Alternativkultur auf die Traktanden und Nietenjacken geschrieben haben (eine kleine Gruppe davon ist zwar auch da und lässt den Punk aus den Röhren donnern. Wer will denn das hören? Auch eine einigermassen peinliche Ansprache folgte irgendwo, und eine vollkommen unbeteiligte Polizistin, die ihren Job zur Verkehrsregelung souverän tat, bekam ihr Fett ab. Seien wir tolerant für alle Randgruppen, die wir da sind. Dennoch: Jungs – das ist einfach nicht cool!)

Der Nachmittag war inspirierend, allerdings doch recht lang. Nach vier Stunden Umzug waren viele zu erschöpft, um sich noch das vielversprechende Radioballett (Irina Lorez) reinzuziehen. Erst recht, weil der von Radio 3fach gekaufte Radio den geforderten Empfang nicht hinkriegte. Zurück zu den toughen Veranstalterinnen und Veranstaltern, die offenbar aus dem Umfeld des besetzten Geissmättli kommen. Hier lässt sich spüren, was seit Jahren nicht vorhanden zu sein schien in der Kulturszene: Ideen für neue Ideen! Protest mit konstruktiven Gegenvorschlägen und ein Engagement, das offensichtlich ein breiteres Publikum anspricht. Gut durchmischt waren denn auch die am Umzug Teilnehmenden, von jungen zu jüngeren über ältere bis zu alten Leuten. Die Politprominenz fehlte allerdings bis auf Louis Schelbert, David Roth und ein paar Grüne. Dafür wurden grässliche «Bittere Pillen, die man schlucken muss», sogenannte Bitterli, verteilt. Ausspucken – sofort! Wenn wir schon beim Polit-Bashing sind, soll auch die Kulturelite nicht verschont sein: Bis auf Catherine Huth (Fuka-Fonds Präsidentin, Geschäftsleiterin Kulturforum) und den ehemaligen Boa-Präsidenten Peter Bühler glänzte dieser Kreis durch Abwesenheit. Es wird wohl manch eine eigene Aufführung angestanden sein. (Man erinnere sich: Das soll auch der Grund gewesen sein, weshalb sich an jener berüchtigten Boa-VV «Boanova» gegen «Kulturhaus» durchgesetzt hat.) Seis drum: Bei der Kulturoffensive ist eine junge Szene am Werk , die sich offensichtlich eigenständig vom politischen und kulturellen Establishment daranmacht, die Szene neu aufzumischen. Das ist gut so. Und nötig.

Pirelli: Bunt war er tatsächlich, der Umzug, und spannend. Und die Sonne hat geschienen, und alle waren fröhlich und nett. Und beim Fototermin vor der Lukaskirche hat man gemerkt, dass nicht alle stillzuschweigen haben in dieser Stadt: Unglaublich, was die Glocken für einen Krach machen, und wie lang. Da hüpft auch dem Atheisten das Herz – und er ist froh, dass er nicht Anwohner ist. Es gab Bier, viel Bier, zusammen mit der Sonne und den vielen Attraktionen euphorisierte mich das derart, dass mich der Umzug keinesfalls zu lang dünkte. So knauserig sich die Stadt bei der Durchführungszeit gezeigt hat, so grosszügig war sie punkto Strassensperrungen: Seebrücke, Bundesplatz, Schweizerhofquai – alles gehörte uns für eine gewisse Zeit. Aber eben, die Durchführungszeit: Ich dachte immer, Meinungsäusserung, auch öffentliche, sei ein Grundrecht. Und dazu gehört auch das Demonstrationsrecht. Nun stammt «demonstrieren» vom lateinischen «demonstrare», was so viel wie «hinweisen, aufmerksam machen» bedeutet. Wie aber soll man das tun, wenn da kaum jemand ist, den man aufmerksam machen könnte? Das «Shoppingerlebnis» werde sonst gestört, meinten die Bürgerlichen und malten den Angstteufel an die Wand. Was haben die denn für ein Demokratieverständnis?

Wohl etwa dasselbe wie unsere geschätzte Zeitung, die am folgenden Tag zwar durchaus ansprechende Bilder publizierte, aber keck titelte, es hätten keine Ausschreitungen stattgefunden. Ja, was haben die denn erwartet? Lieber Che Fred Thomas Bornhauser, liebe Jungs und Mädels von der Maihofstrasse: Nicht einmal die Polizei hat mit der Notwendigkeit eines Einsatzes, der über den Verkehrsdienst (den sie bravourös und ruhig verrichtet hat, Dank dafür!) hinausgeht, gerechnet: Sonst hätte sie wohl kaum ausgerechnet an diesem Abend im La Fourmi ihre «Cop Night» gefeiert und so den grösseren Teil der Einsatzkräfte sich selber ausser Gefecht setzen lassen. Wisse, liebe NLZ: Nicht nur haben deine ungehörigen Angehörigen Ruth Schneider, Daniela Bühler und Hugo Bischof mit viel Elan und aus je ureigenen Interessen die knappe Ablehnung bei der Boa-Lärmdämmungs-Abstimmung von 2003 bewirkt – und die Boa damit definitiv zum Tod verurteilt, nachdem sie vor noch nicht mal zehn Jahren für so viel Geld renoviert worden war –; nicht nur schürst du derart Angst und Bange im Vorfeld von Demos, dass die Gewerbler freiwillig ihre Läden verrammeln und dann ganz enttäuscht sind, wenn natürlich nichts passiert – nein, du bezeichnetest sogar die friedlichen Besetzer, die die Silvester-Sauvage in der Viskose veranstaltet und danach selber aufgeräumt haben, ganz ungeniert als «Terroristen».

Schliesslich gibt es keinen Unterschied, ob man eine Fabrikhalle zwölf Stunden besetzt oder Hochhäuser in die Luft jagt. Wenn du dich nun vermehrt auf deine Verantwortung als einzige Zeitung hier besännest und dich auch aktueller Themen wie Wohnungsnot, Kulturraummangel und Gentrifikation annähmest, statt immer nur dem Kapital und der Obrigkeit das Wort zu reden und etwa Kokainspurenfunde in teuren Clubs zum wichtigen Primeur zu erklären, dann wäre der Sache sicher mehr gedient. (Aber ich will mich nicht zu laut beklagen, wurde ich doch unlängst auf einer ganzen Seite und mit wunderhübschem Bild als beherzter Busiretter wortgewandt porträtiert und somit aufs Angenehmste gekauft – meinen Dank dafür an dieser Stelle.) Das Radioballett im Bahnhof war echt lustig, das anschliessende Konzert von Joan Seiler auf dem Bahnhofplatz gross. Nur, meine Erinnerung lässt da bereits etwas nach – man bedenke: das Bier! Die Sonne! Das Bier! Und noch einen Dank hab ich auszusprechen (den an mein treues Mobiltelefon, das mich auch in den Eingeweiden des Bahnhofs mit tadellosem 3fach-Sound versorgte, lasse ich mal aus): Liebe Leute von der Kulturoffensive! Was ihr da mit so viel Engagement und so unglaublichem Aufwand auf die Beine gestellt habt, war etwas vom Besten, was ich als Demoveteran je erleben durfte. Möge der Pfupf jetzt nicht draussen sein, sondern der Atem noch lange anhalten! Auf dass Luzern auch in zehn Jahren noch eine wilde, schöne, schräge Kulturszene habe! Nachtrag: Im Anschluss spülte es mich in die Gewerbehalle an das Konzert von Hipbone Slim and The Kneetremblers. Saugut, sag ich euch, saugut!