Hoch die Revolution!

Luzerner Theater, 14.03.2015: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter der Anleitung des Herrn de Sade. DAS WAR EIN VOLKSFEST!

Ich mag keine Fanartikel, aufgedruckte Embleme und beschriftete Shirts. Ich lasse mich nicht gerne anschreiben. Ich kaufe das T-Shirt des Stückes. Ein wunderbares Bild von Marat in seiner Badewanne – die Fahne schwingend. Hoch die Revolution! Zu Hause: Das T-Shirt stinkt. Säuerlich, penetrant. Ich weiss nicht was passiert ist, mit diesem Kleidungsstück, das doch bei mir nichts zu suchen hätte. Das Stück von Peter Weiss, hier in der Inszenierung von Bettina Bruinier, hat eine Kraft, eine Energie, eine Frechheit, die mitzieht, begeistert, uns zu zeitweiligen Revolutionären werden lässt. MARAT, WAS IST AUS UNSERER REVOLUTION GEWORDEN? Geschichte wird mit Pop-Kultur verbunden. Alle sind ganz schön fancy angezogen, Marat in blau-weiss gestreiften Hosen, de Sade wirkt wie Marilyn Manson, die Ausruferin trägt die obligaten Trainerhosen zu Glitzeroberteil, vier Gören, frisch aus der Institution für desintegrierte Jugendliche importiert, schmettern wiederholt: MARAT, WAS IST AUS UNSERER REVOLUTION GEWORDEN? Wir haben also das Volk von heute, das die Geschichte von damals spielt. Die Jugendlichen, die heute in Betriebe-für-die-Förderung-des-problemlösenden-Denkens-und-der-sozialen-Integration gesteckt werden, gingen damals auf die Strasse. Oder – nach Charenton. Die psychiatrische Klinik, das zeitweilige Heim de Sades, im Stück aber auch die Stiftung, die den Jugendlichen ein wenig Kultur ermöglicht. MARAT, WAS IST AUS UNSERER REVOLUTION GEWORDEN? Charlotte kommt in Paris an, und tut sich darauf hin mit einem Geliebten, Duperret zusammen. Immer wieder wird ihre Grazie betont, die in stärkstem Kontrast zu der tatsächlichen Figur steht. Sie kauft sich das spätere Mordwerkzeug, der Verkäufer fragt: «Zu wessen Schaden?» und sie steckt sich den Dolch ins Dekolleté. In den Strassen liegen die gestapelten Leichen, die Geköpften, die Geister der Toten. Das Bühnenbild, zu beginn schön glitzrig und geordnet, wird langsam dekonstruiert. Wenn dann de Sade die Foltermethoden aufzählt, vorne am Mikrofon stehend wie ein Entertainer, und dies am Schluss mit einem wahren Volksfest vergleicht, dann wird uns langsam anders. MARAT, WIR WOLLEN WAS ZU FRESSEN HABEN! Plötzlich wird Charlotte fast von ihrem Geliebten vergewaltigt, und da sind nun die Jugendlichen, deren Sozialkompetenz gefördert werden soll – sie fallen übereinander her, und das Stück zerfällt. Charlotte wird mit einem grossen Schokoladenosterhasen bestochen. Und zurückgeholt. Der ungehobelte Geliebte wird kurzerhand gefesselt. Die Revolution ist ein Töten, ein Schreien, eine Orgie aus Gewalt und Sex. HOCH, MARAT! Snowden und Che Guevara tauchen auf. Das Jahr 2015 wird erwähnt. Die Pressefreiheit und Frankreich kommen zur Sprache. Doch ein deutlicher Verweis auf das Heute wird ignoriert, es wird weitergespielt. Was wir nicht sagen dürfen, sagen wir leise. Bis zum Schluss, alle sterben, dafür wird ein grosses Fenster, direkt auf die Fassaden Luzerns geöffnet. MARAT, WAS IST AUS UNSERER REVOLUTION GEWORDEN? Die Sprache des Stückes ist dicht. Szene folgt auf Szene, Wort auf Wort, Schuss auf Schuss, Kuss auf Kuss, Menschen werden zu Affen, Reim folgt auf Reim. Chaos auf Ordnung. Das Gestern auf heute. Armer Marat. Das Shirt stinkt immer noch. Ich trage es trotzdem. Stinkend nach der Revolution, die heute nicht mehr kommen wird. Und im Gedanken an ein Stück, dass mich kurzeitig anders glauben liess. Und dies sogleich selbst wieder verneinte.

Weitere Aufführungen von Marat/Sade: 20., 22. und 29. März, 02. und 11. April, 01., 03. und 24. Mai, 03. Juni.