Her mit den Bic Macs, aber dalli!

Aussergewöhnlich ist die Uraufführung des einstündigen zeitgenössischen Librettos «Die grosse Bäckereiattacke» ja. Vermutlich vor allem, weil es im Luzerner Theater zu sehen ist, wo sonst in der Opernsparte vor allem locker-flockige Stücke über die Bühne tänzeln. Bunt, postmodern, ein bisschen von dem und dem, jazzige Elemente, Geräusche, Elektronisches. Ein Hauch gemässigter Absurdität weht durch den Theatersaal und entlockt einer Dame hinter mir den Ausruf «Ich finde das Ganze schon ziemlich amüsant».

(Von Andrea Portmann)

Aus zwei Erzählungen mache ein Libretto. Man nehme «Der erste Bäckereiüberfall» und der «Zweite Bäckereiüberfall» des in unseren Breitenkreisen breit rezipierten, japanischen Schriftstellers Haruki Murakami (*1949), kürze und arrangiere das Ganze für eine Bühnenoper und lasse sie zeitgenössisch vertonen. Die Librettoform nach der absurden Erzählung Murakamis stammt aus der Feder des israelischen Autors Yohanan Kaldi, die zeitgenössische Musik dazu wurde von der japanischen Komponistin Misato Mochizuki geschaffen.

Vielleicht hängt meine Begeisterung mit den Erwartungshaltungen, die ich ins Theater hinein gebracht habe, zusammen. Ich dachte mir «Zeitgenössische Musik in Opernform» und hatte plötzlich ein Bild vor Augen, ich kann jetzt auch nicht erklären warum, von einem schon längst verjährten La-Fourmi-Besuch, als Urs Leimgruber einzelne Töne aus seinem Saxofon in einem wahnsinnigen Kraftakt herausmurkste, dabei wie ein Flamingo auf der Bühne stand und alles irgendwie sehr avantgardistisch wirkte, wie man auch an den sich intellektuell gebärdenden Mienen im Publikum damals unschwer ablesen konnte (Stirnfalten kräuseln, Brille gelegentlich zur Stirne hochstreifen oder in die Hand nehmen, Hand vor den Mund halten etc. etc., eine Typografie der intellektuellen Mimiken gibt es meines Wissens noch nicht). Aber zeitgenössisch muss ja nicht gleich avantgardistisch sein. Zeitgenössisch war die «Grosse Bäckereiattacke» allemal, vielleicht ein bisschen zu gefällig. Doch fangen wir von Vorne an.

Geschlossener Vorhang. Ein Brummen mischt sich durch das gut  betuchte, ältere Publikum samt Stapi, lässt die Ohren spitzen. Das  Brummen wird lauter, breitet sich aus, der Vorhang öffnet sich, im  Dämmerlicht zeichnet sich ein futuristisches Bühnenbild (Nora Scheidl) ab: Ein Mix aus 60er-Jahre und Feng Shui, nirgends Kanten, drei rote Rundflächen, ein Bett. Da liegen zwei drinnen. Das Ehepaar Miya (Sumi Kittelberger) und Kuni (Hans-Jürg Rickenbacher). Das Brummen verwandelt sich in ein Blubbern und Rumoren. Mir dämmerts: Wir befinden uns in der Nähe der Bauchspeicheldrüse oder irgendwo sonst im Magen, vielleicht in Nachbarschaft zum Blinddarm, auf jeden Fall da, wo sich Säure formiert und es gehörig anfängt zu rumoren, wenn sich der Hunger meldet. Eine der drei roten Rundflächen beginnt sich geschwürartig auszukragen, sieht aus wie  eine Vulkanspitze. Die beiden Protagonisten sind geplagt, geplagt  von einer riesigen Hungerattacke. Operngesang löst gesprochene Passagen ab, dazu spannungsreiche Musik aus dem Orchester. Sie sehen keinen Ausweg, türmen die Küche. Das Bett verwandelt sich in einen Kühlschrank, das runde Bühnenelement wird zum Tisch, der Kühlschrank klafft ihnen wie ein schwarzes Loch, wie ein Spiegelbild ihrer eigenen leeren Mägen entgegen. Kuni kennt dieses besondere Gefühl von genau diesem unstillbaren Hunger von irgendwo her. Seine Erinnerung setzt ein.

Rückblende:

Kuni und sein Kollege Chiko überfallen eine Bäckerei. Der alte Bäcker, gespielt von Boris Petronje (die Rolle ist ihm einmal mehr auf den Leib geschnitten) ist ein richtiger Kommunist, kennt sich aus mit dialektischem Gedankengut und hört Wagner ab Schallplatte. Selbstvergessen summt er auf seinen Mehlsäcken hockend und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine leckeren Torten ihrerseits sitzen auf roten Padeln, bewegen sich verführerisch tänzelnd auf- und abwärts. Ein altes Tantchen betritt die Bäckerei, sie trägt eine Unmenge weisser Schminke im Gesicht – Persiflage durch Camouflage – und traditionelle japanische Holzzockelschuhe, steckt die Nase in einige Torten, gibt ein tiefes, männerstimmenartiges «Ich komme wieder» von sich, ist sogleich vom Parkett verschwunden und vergessen.

Kurzes Intermezzo: Ich hätte Haruki Murakamis Erzählungen «Der erste Bäckereiüberfall» und «Der zweite Bäckereiüberfall», auf denen dieses Libretto basiert, vor dem Theaterbesuch nicht zweimal lesen sollen. Denn gespannt war ich vor allem auf die Szene mit dem Tantchen – in Murakamis Erzählung eine brillante Passage. Das Tantchen als urkomisches, retardierendes Element eines Bäckereiüberfalls von zwei jungen Müssiggängern. Ich zitiere kurz aus Murakamis «Der erste Bäckereiüberfall»: «Mit einer Bedächtigkeit, die uns zur Weissglut trieb, und einer Sorgfalt, als ob sie sich für eine Kommode und einen Frisierspiegel entschiede, hob Tantchen einen Krapfen und ein Melonenteilchen auf ihr Tablett. Allerdings nicht, um sie gleich zu erwerben. Der Krapfen und das Melonenteilchen waren für sie nicht mehr als eine These.»

Gleichzeitig wird mir bewusst, dass Erzählung und Bühnenlibrettofassung zwei paar Schuhe sind, die ihre Eigensinnigkeiten entfalten und die Librettofassung des israelischen Autors Yohanan Kaldi, vor allem im Bereich der sprachlichen Finessen «[...] Stopft ich mich voll mit Indiens Kühen, die den Müll durchwühlen, fräss ich den Globus auf, samt Sonne und Himmel [...]» durchaus seine Reize hat. Tantchens Auftritt war mir dennoch definitiv zu platt.

Doch zurück in die gute Bäckereistube: Der alte Bäcker bietet den beiden Räubern einen «Tausch» an: Die beiden erhalten so viele Törtchen wie sie wollen, müssen dafür als Gegenleistung Wagners Götterdämmerung hören. (Wenn das keine subversive Unterwanderung des Tauschgeschäfts ist.) Siegfried, Brünhilde, Kriemhilde, Gunther und Hagen und wie sie alle heissen, die gloriosen Figuren aus Richie Wagners letztem Teil der "Ring der Nibelungen" erscheinen kurz auf der Bühne, zeigen sich in Rittermontur und Schwanentütü und verschwinden danach im Kühlschrank, der sich in einen feuerroten Moloch verwandelt.

Nach der Rückblende geht die Handlung des heisshungergeplagten Paars weiter. Miya ist überzeugt, dass ihr Mann Kuni seit diesem  Bäckereiüberfall wagnerianisch verflucht ist und dieser Fluch gebannt werden soll. Den einzigen Ausweg sieht sie darin, mit ihrem Mann  nochmals eine Bäckerei zu überfallen. Und siehe da, die bis anhin noch in lieblichem, rosarot-flauschigem Pyjamamantel mit Hello-Kitty-Pantoffeln gekleidete Miya verwandelt sich in eine vamphafte Räuberbraut à la Catwoman in engem schwarzem Lederkostüm (Sumi Kittelberger macht, egal welche Figur sie spielt, definitiv immer eine  gute Figur). Klar, ist ihr Mann da zunächst einigermassen überrascht, lässt sich dann aber die Knarre geben, die sie in ihrem Unterwäscheschrank versteckt hat und streift sich seinen braunen Morgenmantel über.

Es folgt eine Autofahrt durch die Strassen Tokyos, lebendige Schilder  mit japanischen Schriftzügen streifen an ihnen vorbei. Da zu dieser mitternächtlichen Zeit keine Bäckerei mehr offen hat, halten sie bei einem einbogigen gelben Leuchtzeichen, das an unserem Bahnhof und überall auf der Welt zwei Bögen in M-Form hat. Es folgt eine überdrehte, teilweise auch musikalisch austickende Szene, ein bisschen so, wie wenn ein Hamster im Rädchen rennt. Ein Mädchen hinter dem Tresen quietscht mit mickeymausartiger, computergenerierter Stimme, der Ladeninhaber piepst nervös und kaut sich an seinen Nägeln. Ein kurzes Intermezzo mit bewaffneten Soldaten, die fragen, ob jemand einen Schuss bestellt habe (kein Kommentar). Das Gaunerpaar fordert 32 Bic Macs. Bekommen diese und verzehren sie auf dem Gerüst mit dem einbogigen, gelben Reklameschild. Kuni liest, während er genüsslich die Bic Macs verspeist, die ersten drei Zeilen aus Haruki Murakamis «der zweite Bäckereiüberfall»: «Ob die Entscheidung, meiner Frau von dem Überfall auf die Bäckerei zu erzählen, richtig war oder nicht, weiss ich immer noch nicht genau.»  So endet das Stück mit vollem Magen, wo es doch mit leerem beginnt.

Ein  zauberhaftes Moment habe ich ganz am Schluss erlebt, als sich an der beleuchteten Decke schimmernd die Schattenreflexionen der nach hinten und vorne wallenden, sich verneigenden Schauspieler und Schauspielerinnen zeigten. Es sah ein bisschen so aus, wie wenn man Öl in Wasser giesst und das Öl kleine Träubchen bildet. Öl in Wasser, ist das eigentlich ungefähr so, wie wenn ein Kommunist Wagner hört?

Dass die ganze Vorstellung irgendwie doch ins Schwarze, wenn auch nicht ins Schwarze des Schwarzen Humors, zumindest aber des anwesenden Zeitgeistes getroffen hat, zeigt mir ein Mann, der nach der Vorstellung die Garderobendame frägt, ob dies jetzt die Pause sei.

«Die grosse Bäckereiattacke»: Vorstellungen noch bis 5. April im Luzerner Theater. Programm hier