Helden im Hintergrund

Loge, Südpol, Neubad, Kleintheater, 28.10-02.11.2014: 10 Jahre sind erst der Anfang! Das bewies das B-Sides-Indoor an seinem ersten dicken Geburtstagsevent während rund einer Woche. Trotz ein paar Faktoren, die Luft nach oben haben.

(Fotos: Mik Matter & Stoph)

Zehn Momente für zehn Jahre B-Sides. Damit zelebrieren die gutaussehenden Bohemiens bereits jetzt Geburtstag. Bis Ende 2015 soll die Feierreihe dauern. Ein besonderes Schmuckstück  stellt hierbei das B-Sides-Indoor-Festival dar: Open Air für einmal unter einem Dach. Respektive unter Dächern: Loge, Neubad, Kleintheater und Südpol dienten als Domizile für ein ordentliches Programm: Performances, Lesungen, Spoken-Word-Anlässe, Kinderprogramm und natürlich Musik: Vielfalt ist, was B-Sides ist. Kaum eine andere kulturelle Organisation in Luzern beherrscht das interdisziplinäre Organisieren und Netzwerken besser. Wer B-Sides denkt, denkt immer ein wenig innovativer. Warum also nicht den Artikel unter dieses Zeichen setzen und für einmal die nicht minder spannenden B-Seiten eines Festivals zeigen? Jene Perlen, die erst im zweiten Augenblick auffallen? Und gerade live um so mehr beeindrucken. Kurz: Das B-Sides-Indoor-Festival als Helfer erleben. Die folgenden Zeilen fokussieren in der Folge speziell das musikalische Kernstück vom 31. Oktober und 1. November.

Tobias, Bettnesser

Wer sich eines Helferjobs annimmt, sieht hinter die Kulissen. Und die sind oftmals spannender als das Geschehen auf der Bühne. Wichtige Schlagwörter: Geduld, Präzision, Organisation und Humor. Letzterer bildete die erste Impression im Südpol: Bettnesser Tobias (genau so geschrieben), ein Kind mit komischer Frisur, porträtiert auf einem Plakat im Technikerbüro des Südpol. Prägend. Der ideale Start in den Abend. Schon zu Beginn fiel die herrlich dekorierte Shedhalle auf: Verschiedenste B-Sides-Utensilien sorgten für einen Augenschmaus. Favorit: ein Lego Technic-Plattenspieler. Die visuelle Komponente ist nämlich ebenso wichtig wie innere Werte. Diese wurden im Club zur Eröffnung musikalisch zelebriert von der Formation Pink Spider um Sängerin/Gitarristin Valerie Koloszar.

Wenngleich die Luzernerin im Vorfeld bereits einige Gigs in der lokalen Gegend gab (Plattentaufe in der Industriestrasse, Abschlussabend Meridiani, «Helvetia rockt» im Neubad beispielsweise), fragte man sich doch: Wo hat sich Koloszar bisher versteckt? Eine mächtige Stimme sowie drei ungemein starke Mitmusiker sorgten für höchsten Genuss. Gelegentlich erweckte die Frontfrau zwar den Eindruck, dass es ihr nicht so wohl war auf der Bühne – «lieber singen und spielen anstatt schwatzen» - aber das schmälerte das positive Fazit nicht. Sogar Rätselraten gab’s, als der Schlagzeuger plötzlich verschwand. Notdurft verrichten? Nein, nur was im Backstage vergessen. Weitermachen.

Halloween in meinem Herzen

Weiter ging’s dann im Anschluss mit Jerusalem in My Heart, dem ersten Act im grossen Saal. Der gebürtige Libanese Radwan Moumneh bot «kontemporären Elektro und  traditionelle arabische Musik» in Kombination. Plus vier uralte Projektoren, die irgendwelche blitzenden Projektionen ausstrahlten. Geringer Effekt mit grossem Aufwand: Die meterlangen Filmbänder würde wohl anschliessend auch nicht jeder ordnen wollen. Musikalisch ging das Gemisch aus Synthesizern sowie traditionellen Instrumenten aus dem Orient hingegen gut auf und gefiel dem Publikum sichtlich. Dieses tröpfelte langsam rein und war bis zum Ende Konzert auf eine stattliche Zahl gewachsen – wenngleich weitaus mehr Leute reingepasst hätten. Ob’s wohl an Halloween lag? Daran hatte man natürlich auch im Südpol gedacht. Im  mittleren Saal ein gestreifter Kasten, vermeintlich leer... Kaltes Licht, das gelegentlich verschwand. Eine beunruhigende Ruhe... Bewegt sich da etwas im Quader? Tatsächlich, eine, zwei, nein, sogar vier Hände! Die augezwinkernde Rede ist von Cie Prototype Status unter der Regie von Jasmine Morand, welche einen intimen Tanz konzeptioniert hat. Der atmosphärische Rahmen erschien jedoch derart gruselig, dass die Faszination eher dem kurzen Horror-Kick wich – war das vielleicht auch der Wunsch jener Artificial Peepshow? Hektik? Keine Chance. Halls wurden leider verpasst. Ein bekannter Kulturschaffender Luzerns meinte dazu: «Die Schlagzeugparts hätte sogar ich besser gespielt, obwohl ich seit mehreren Jahren hinter keinem Drumset mehr gesessen bin». Gerne hätte man sich von dem Eindruck überzeugt, doch der grosse Saal erhielt unerwartet Action. Dort hastete nämlich die Person mit dem höchsten Stresslevel des gesamten Festivals herum.

Während Shabazz Palaces irgendwo rumstrichen (und erst kurz vor Konzertbeginn ankamen), schwitzte deren Roadie/Assistent wohl Blut und Wasser. Man wäre kaum verwundert gewesen, falls er bereits  vor Ende der Show von Radwan Moumneh die Bühne gestürmt hätte. Beruhigen lassen ging kaum. «Wir müssen so schnell wie möglich sein, damit genug Zeit bleibt, falls Probleme auftauchen!» - Bub, wir sind hier in der Schweiz. Mehrere Stunden Zeit für den Soundcheck und Aufbau von ein paar elektrischen Geräten reichen hier aus, zudem du auch dem mitgereisten Shabazz Palaces-Mischer peinlich wirst. Was war noch gleich eine wichtige Charaktereigenschaft eines Helfers? Geduld. Dank sei Südpol-Cheftechniker Felix Lisske und seinem Team, wo dank tadelloser Organisation Hektik gar nicht erst aufkam. Diese wäre durch das Konzert sowieso nicht gerechtfertigt worden. Dem experimentellen HipHop fehlte das Steigerungspotenzial – ein zähes «vor sich Hintröpfeln» war die Konsequenz. Ätzender erschien lediglich die amateurhafte Dena, wenn man den Gerüchten im Club Glauben schenkte. Wiederum gefiel dort die welsche Elektro-Formation Larytta, der unter anderem Honey for Petzi-Drummer Christian Pahud angehört. Treibende Beats von vier Jungs (ursprünglich ein Duo). Kuhl. Bis zu diesem Zeitpunkt fehlte jedoch ein Highlight. Das Programm war okay, aber wo blieb der Mindblow-Charakter vom Sonnenberg?

Wiener Sonnenexplosion

Experten für solche Erlebnisse sind Elektro Guzzi. Das Wiener Trio fasziniert mit seinem instrumentellen Techno nicht nur Effektpedal-Freaks. Da stehen sie, wie drei mächtige Statuen, teils im Basketball-Outfit, und bringen die B-Sides-Besucher zur Tanzekstase. Komplettiert mit einer mächtigen Lichtshow der Südpol-Crew und ordentlich viel Rauch machte das brutalen Eindruck. So klingt wohl die Explosion einer Sonne. Wenngleich der Überraschungseffekt dieses Mal ausblieb (im Sedel oder am One Of A Million-Festival dampfte die Luft eine Runde mehr), muss festgehalten werden, dass die Österreicher sackstarke Musik machen, welche in dieser Intensität selten so einfährt. Das Ende der Konzerte im grossen Saal war erreicht. Unten ging’s hingegen weiter mit OCnotes. Dieser kam einem überraschend bekannt vor, wanderte er doch bereits den ganzen Tag im Haus herum – zu Beginn dachte man gar, der DJ gehöre Shabazz Palaces an. Naja, immer noch lieber als deren Assistent. Ob jener wohl zu El Tigre Sound oder dem Spin Club Lucerne getanzt hat? Schweizer Überraschungspächter Der darauffolgende Festivaltag startete dann schon wieder mit einer Schweizer Überraschung. Kutti MC alias Jürg Halter ist ja inzwischen mehr mit geschriebenen Worten im Literaturwesen aktiv und bekannt.

Trotzdem macht er nach wie vor Musik – gute Musik. Besonders live. Der Berner rutschte kurzfristig ins Line Up rein, hätte jedoch gut und gerne zu einem späteren Zeitpunkt vor mehr als knapp 40 Leuten spielen dürfen. Eine tolle Show mit fetten Klängen sowie einem engagierten Halter riss die Zuhörer mit. Selten wurden Songübergänge so interessant gestaltet, wobei ein Beschrieb derer kaum möglich war. Inspiration! Die gab’s auch im Club mit Mystery Park, einem sauglatten Schweizer Rockkollektiv – doch mehr als ein kurzes Ohr wurde einem nicht gegönnt, weil der Abbau des MC Kutti zu tun gab. Für den nachfolgenden Act brauchte es dann punkto Aufbau lediglich einen Stuhl und einen Hocker. Mehr benötigten die beschwörenden Koraklänge von Toumani & Sidiki Diabaté nämlich nicht. Die beiden Malier gehören momentan einer Trendwelle an, die verschiedene Institutionen verzaubert. Egal, ob am Bad Bonn, Glastonbury oder im Südpol: Afrikanische Musik ist in. In den Ohren des hier schreibenden Autors klingt der Sound zwar oftmals ein wenig gar gleich und der Trend kann nicht immer ganz nachvollzogen werden. Trotzdem boten Vater und Sohn eine beeindruckende Leistung auf ihren Instrumenten und sorgten für intime, gemütliche Schwingungen – welche übrigens das gesamte B-Sides-Indoor-Festival auszeichneten.

Daumenkrampf

Anbei eine Anekdote, die vom begeisterten Publikum wohl nur am Rand wahrgenommen wurde: Der gar ramponierte Laptop Sidikis liess aufgrund eines Wackelkontaktes der Buchse kaum mehr Sound zu. Die Zugabe musste wohl ausfallen. Nicht so mit Marco Liembd, Kommunikationschef und Künstlerbetreuer während des Events im Südpol. Er drehte und schraubte so lange am Kabel, bis eine funktionierende Position gefunden wurde. Nun also sechs Minuten Stillhalten, während vorne Kora-Techno läuft. Fazit: Krampfende Hände und feiernde Zuhörer. So geht Artist Relation Management. Unten tobte derweil Elektro vom welschen Künstler Bauchamp – ja, haben die Romands denn die elektronische Musik gepachtet?

Kam man zum Clubeingang, galt es zu drängeln: So viele Leute? Nicht ganz. Ein stellenweise bekanntes Phänomen im Südpol: Hinter dem Mischpult brechend voll, davor bis zur Bühne hingegen kaum eine Person. Glücklicherweise wollten dann gen Schluss doch ein paar Tanzmäuse mehr Platz und hatten ihren berechtigen Spass.

Krautfliegenchaos

Der für Mediensprecher Urs Arnold beeindruckendste Gig fand anschliessend im grossen Saal statt. Ein gut gelaunter Son Lux mit zwei grimmigen Mitmusikern feierte ein Konzert, welches das Publikum mitriss. Es wurde gejubelt, um Zugaben gebeten, geschwelgt. Aus der eigenen Perspektive betrachtet erschienen die Songs im Verlauf ein wenig gar fad, ja sogar nervig aufgrund pathetischer Anfälle beim Gesang. Der talentierte Drummer bewegte diese Empfindung aber einigermassen in positive Bereiche. Leider leider wurde der psychedelische Krautrocker Klaus Johann Grobe sowie die Malier Andra Kouyate & Le Magic Foli verpasst. Bei ersterem wurden Jazzer im Glücksrausch betört. Bei letztgenannter Formation hingegen gab’s statt Betörung eine erschlagende Wand aus Pink und Parfüm durch eine Sängerin ins Gesicht. Apropos Farbe: Zuletzt traten zwei kurios-farbig gekleidete Gestalten namens Peaking Lights auf. Ein Ehepaar, bestehend aus Sängerin Indra Dunis und Aaron Coyes, der die Regler am riesigen DJ-Equipment-Tisch bearbeitet. Welch kuriose Show: Sie hört sich nicht auf der Bühne, schaut streng zum Monitor-Mischer, welcher ihr folglich die Stimme aufdreht. Sofort reagiert ihr Partner und dreht seinen Sound am eigenen Mischpult so weit auf, dass sie sich wieder nicht hört – bis schlussendlich Dunis‘ Vokalorgan nicht mehr lauter eingestellt werden konnte. Chaos. Wer soll schuld gewesen sein? Der Mischer. Wer war wirklich schuld? Die Band. Ein häufiges Szenario, dass die Technikergilde trotzdem oftmals still duldet. Stille Helden. Ebenso wie jene Helfer bei Merchandising, Catering (apropos: Schon für Moment Nr.2, das B-Sides-Kochbuch gespendet?), Bandbetreuung,  Sicherheit usw. usf.

Ausblick gen Sonnenberg

Womit wir wieder beim Eingang wären: Ein solches Festival kann nur laufen, wenn viele Menschen mithelfen. In den meisten Fällen freiwillig. Wer also begeistert in der Loge Jürg Halter oder Dr. Lüdi zugehört hat, im Kleintheater Polymer_DMT beim Tanzen zuschaute oder Peter Broderick beim Musizieren erlebte und im Südpol Speis sowie Trank genoss zur Musikperformance-Show von Bianca Story-Keyboarder Fabian Chiquet, sollte sich dessen immer bewusst sein. Kulturanlässe leben, indem sie besucht werden. Je innovativer, desto besser: Gerade deshalb muss das B-Sides unbedingt weiterleben. 1000 Besucher anstatt der 1600 erwarteten können in diesem Zusammenhang ein Rückschlag sein… Oder im konzertmüden Luzern (wir berichteten) ein Hoffnungsschimmer? Beim schwach besuchten Kinderprogramm am Sonntag mit Kolyphan und dem Jugendzirkus Tortellini wären Zweifel angebracht. Wer jedoch als Helfer die Leidenschaft aller Beteiligten in Geschichten, Ausdrücken und professionellen Arbeiten erlebt, weiss: Zehn Jahre sind erst der Anfang. Dank Helden im Hintergrund. Die Ode folgt 2015 auf dem Sonnenberg. So long.