Grosse Babyschritte

Schüür, Luzern, 30.05.2018: Lange war es ruhig um Baby Genius, doch nun ist die Band mit einem neuen Album zurück. Doch wirklich neu ist dieses nicht, sondern das zehn Jahre alten Erstlingswerk, neu eingespielt unter identischen Bedingungen. Ein mutiges Projekt. Ob es klappt?

Zehn Jahre ist es nun her, seit Baby Genius ihr selbstbetiteltes Debüt veröffentlichten. Ein lautes, British-Rock-angehauchtes Album, das dem Luzerner Frontmann Ivo Amarilli damals viel Aufmerksamkeit verschaffte, Vergleiche mit Pete Doherty provozierte und ihn selbst als einen der ersten Internet-Hypes der Schweiz gelten liess. In den darauffolgenden Jahren brachten Baby Genius noch zwei weitere Alben raus, aber der Hype hielt nicht an, und es wurde immer ruhiger um die Band. Ihr letztes Konzert liegt schon zwei Jahre zurück.

 

Nun sind sie aber wieder da. Irgendwie. Und irgendwie doch nicht. Denn in einem ambitionierten Projekt hat Amarilli das erste Album neu aufgenommen: mit der exakt gleichen Besetzung im gleichen Studio, wie schon vor zehn Jahren. Die Platte trägt den schlichten Namen «10». Man kann sich fragen, was der Mehrwert dieser Aktion sein soll. Ego-Masturbation, Peter-Pan-Syndrom, eine Befriedigung der vorherrschenden Nostalgiesucht, eine Beschwörung der Jugend, alles davon, oder etwas ganz anderes? Diese Fragen schlittern jedoch am Herzen der ganzen Sache vorbei.

 

Zum ersten Mal stehen die fünf Musiker gemeinsam auf der Bühne. Sie wirken im ersten Moment steif, aufgeregt, auf ihre Instrumente fokussiert. Verständlich. Denn eben, Martin Fischer (g), Tobi Gmür (b), Mex Respondek (d) waren so noch nie auf dieser Bühne. Respondek zum Beispiel sass zum letzten Mal vor acht Jahren am Schlagzeug. Aber mit dem zweiten Drummer Sandro Schindler und Amarilli, der mit offenem Haar und einer arroganten Rockstar-Attitüde die Bühne erstürmte, findet die alte-neue Bandkonstellation Halt im Chaos. Der Lautstärkeregler drei Runden aufgedreht, die Riffs hart, der Bass bestimmt. Die beiden Schlagzeuger wechseln sich immer wieder ab, bis sie dann gemeinsam spielen, was an sich schon eine Seltenheit ist. Dieser Garage-Britrock-Sound packt sofort, wirbelt einen herum, und lässt feiern, auch wenn (oder genau weil?) er sich nach einem Sound aus einer anderen Zeit anfühlt. Die Unterschiede zum originalen Erstlingswerk sind nicht immer deutlich. Im Grossen und Ganzen fühlt es sich runder an, ein wenig durchdachter, ohne aber je den Charme des alten Sounds zu verlieren.

BabyGenius

Nach der Vorband – ebenfalls Baby Genius, aber in aktueller Besetzung – steht ein ganz anderer Amarilli vor dem Publikum. Ein krasser Wechsel vom gesetzteren Sänger zum wilden, abgefuckten Rocker, der auch mal achtlos seine Gitarre fallen lässt oder auf das Schalgzeug klettert. Eine Reinkarnation der ursprünglich von ihm konzipierten Figur des Baby Genius. Aber genau wie seine Jacke streift er diese Rolle von sich ab und lässt die Menschlichkeit dieser Situation erstrahlen. Die speziellsten Momente sind die, in denen man sich wieder bewusst wird, dass da auf der Bühne fünf Typen sind, die einfach Spass am Spielen haben. Und diese Freude ist ansteckend. Schindler bringt sein Grinsen kaum aus dem Gesicht, Fischer, Gmür und Respondek nicken sich immer wieder vieldeutig zu. Diese Energie ist im ganzen Publikum spürbar. Eine wunderbar gute Laune. Überraschend springt plötzlich der Rapper Pablo Vögtli auf die Bühne um für einen Song seinen inneren Zack de la Rocha zu beschwören. Fäuste in die Höhe, Fingerpistolen bereit, hart tanzen, sich völlig in die Welt von Baby Genius reinziehen lassen.

 

Auch wenn diese Musiker nie wieder gemeinsam spielen werden haben sie heute Abend etwas Einzigartiges gemacht. Sie sind ein Risiko eingegangen, haben Mut bewiesen. Das hätte nach hinten losgehen können. Aber es schoss sie weit nach vorne. Ende des Jahres soll ein Film über die Entstehung von «10» erscheinen. Ein Film darüber, was in den zehn Jahren mit diesen Musikern geschehen ist, über das Musikerleben in der Schweiz, oder eben genau nicht. Man darf gespannt sein.