Go Charly Go! – The Crumbs im Casineum

Wenn die Luzerner Theatergruppe Improphil zum Spektakel bittet, darf man gespannt sein. Heute, 21. Mai sind wir doppelt gespannt auf Improphil mixed, will heissen, auf theatersportliches Instant-Composing der Improphilen gemeinsam mit ihren kanadischen Berufskollegen Crumbs. Dass die Kanadier auch im Alleigang so einiges auf die Bühne zaubern können, davon konnte man sich gestern schon im Casineum überzeugen: Ein Abend voller abenteuerlichem Unsinn und bewegendem Tiefsinn.

«Das Genie improvisiert aus dem Moment», ist eines meiner liebsten geflügelten Worte – stets griffbereit, um leider nur allzu oft liederliche Faulheit zu edeln. Was die Crumbs dem Luzerner Publikum gestern im Casineum boten, war in der Tat genial,  jedoch ganz bestimmt nicht das glückliche Zufallsprodukt von Faulheit. Die Crumbs, das sind Stephen Sim und Lee White – zwei äusserst virtuose Show- und Schauspieler. Beeindruckend, wie sich die beiden netten, aber eigentlich ziemlich unspektatulären Herren von einem Moment auf den anderen in verbissene Wissenschaftler, harte Jungs mit tätowiertem Anker, verknorkste Stotterer, frustrierte Ehemänner, dezente Kellner, kokette Blondinen, gebrechliche Greisinnen oder gar in ein furchterregendes Erdbeermonster verwandeln. Und damit sind wir schon mitten drin in der Geschichte: Ihre Anfänge nahm sie im Publikum. Wir sollen den Crumbs die Themen des Abends vorgeben: «Something you are absolutely passionated of?» Stille; Leidenschaften scheints nicht viele zu geben im Saal. (Oder sie werden geheim gehalten. So wie meine.) «Atheism», ruft der eine, «Strawberry» die andere. Und wo soll die Geschichte stattfinden?, «on a ship», wünschen wir, und «in the kitchen». Ebendahin werden wir nun entführt – zunächst einmal schippern wir «on the red cruise-ship of Love» über den Ozean mit dem Captain (was für ein MANN!), seinem first Mate Charles (was für ein Weichei!) und lauter Liebespaaren an Bord. Danach begleiten wir den – notabene atheistischen – unheimlichen Hardcorewissenschaftler auf der Suche nach der perfekten Erdbeere, weiter geht’s im amerikanischen Suburb-Idyll, wo das leicht blöde Ehepaar leicht blöde tändelt und sich später im französischen Restaurant unter all den «fancy dishes» escargot und champaign aussucht, bevor der unheilbringende Satz fällt: «We have to talk together.» Nun, das alles tönt nicht gerade weltbewegend. Ist es auch keineswegs. Kennen wir alles: DIE Highschoolkomödie, DAS Beziehungsdrama, DIE Vorstadtsatire, DIE Liebesschnulze, DER Science-fiction-Thriller, und dann noch dieses idiotische Schiff! Dieser Name! «Cruise-ship of Love»! Dieser Captain! Den kennen wir – klar doch: Stereotypen, alle millionenfach schon über Bildschirme geflimmert. Heute Abend sind diese Stereotypen aber eine ganz wunderbare Sache: Sie bilden – und mag die Feststellung noch so kulturpessimistisch klingen – unsern gemeinsamen Bildungshintergrund, jeder kennt sie. Umso herrlicher ist es, den Crumbs dabei zuzuschauen, wie sie die Szenen entwickeln und langsam ineindander verflechten. Der Atheist entwickelt anhand der perfekten Erdbeere weltfremde Allmachtsfantasien und kreiert schliesslich die Frucht, die zwar perfekt ist, es aber schrecklich in sich hat. Das amerikanische Paar benimmt sich herrlich daneben im französischen Restaurant («Usually, I never eat foreign food!»). Den grössten Unfug aber treiben die Crumbs sichtlich vergnügt auf ihrem Cruise-ship of Love, wo der dezent homoerotische Touch der Geschichte in der Kapitänskabine im letzten Moment abgewendet wird und in eine herzzerreissende Liebesgeschichte zwischen den beiden unaushaltbar verstockten und entsetzlich schüchternen Highschool-Verlierern Charly und Sandra mündet. Hochdramatisch schliesslich die Szene, als der frustrierte Ehemann in einem Akt der Verzweiflung das Drama aller Männer (dies ist eine sexistische Pauschalisierung, ganz genau)  schlicht in die Worte fasst: «I love you! But I don’t want to TALK to you! I just don’t want to TALK!» Bei all diesem Überschwang, dieser Phantasterei, verlieren die Crumbs weder den Überblick noch den roten Faden und wirken als Ensemble perfekt aufeinander abgestimmt: Ohne Absprache ist jeder Szenenwechsel klar, mit kaum mehr als einem blitzschnellen Ändern der Haltung wechseln die beiden von einer Figur zur nächsten, ohne Worte wissen beide, wann Pause, wann Schluss ist. Die ungezwungene, gegenseitige Inspiration ist beeindruckend, die stellenweise Selbstironie oder gar ein lauter Lacher ist sympathisch. Und das ganze Abenteuer begleitet DJ Hunnicutt, auf der Gitarre – auch er ein Meister der Stereotypen: Vom Säuselpop bis zum Metalinferno hat er zu jeder noch so überraschenden Wendung den passenden Soundtrack bereit. Und wir, das Publikum, fiebern mit, überrascht, verwundert über jede neue Wendung, getroffen von jeder Pointe. Das ist so nicht die Regel, im Theater. Allzu oft sitzen wir auch einfach auf unsern Sesseln, das Reclambüchlein in der Jackettinnentasche, und warten: Warten, bis Woyzeck den mit dem Abgrund rauslässt, das Lieblingszitat der Hälfte all unserer Facebookfreunde; warten, dass McBeth endlich seine Gretchenfrage stellt. Pointen? Kennen wir alle schon, weil wir ja gebildet sind. Wie erfrischend ist es da, sich von den Crumbs mitreissen zu lassen! Wie gerne würden wir alle aufstehen wie im Kindermärchentheater und rufen: «GO Charly, GO! Du kriegst sie!» Nicht nur first mate Charly, jeder der Charaktere kreieren die Crumbs uns altbekannt und gleichzeitig liebenswert skurril. So ist es auch nicht verwunderlich, was sich das Publikum nach dem letzten Applaus als Zugabe wünscht: Nicht die Erkenntnis der Wissenschaft, sondern ein Happy-End soll’s sein. Der Liebesgeschichte, natürlich. Dazu lassen die Crumbs sich nicht lange bitten! «This is exactly how love should feel», sinniert die tyrannische Greisin, «a little bit guilty – and a little bit good.»