Gebuchtes am Luzerner Literaturfest

Luzern, Samstag, 09. März 2013. Im Kleintheater wurde im Rahmen des 29. Literaturfestes «Luzern bucht» eine beachtliche Dichte an Lesungen von Autoren mit frisch gewonnener oder schon länger erworbener Prominenz geboten.

Der Samstag wartete mit einem gelungenen und potenten Potpourri aus der deutschsprachigen Literatur auf. Das abwechslungsreiche Spektrum reichte vom neuen Schweizer Medienliebling Thomas Meyer über die deutschen Grössen Stephan Thome und Jenny Erpenbeck, an denen im letzten Jahr kein Weg in den Literaturformaten vorbeiführte, bis zur Urner Lyrikerin Lisa Elsässer und der heimischen Germanistikikone Peter von Matt. Als erfreulicher Kontrast entführte das Innerschweizer Duo «Canaille du jour» dazwischen in die «literarische Finsternis der Gassenlieder». Ein Abend von 19 bis 23 Uhr mit lauter Lesungen kann theoretisch schon langatmig werden. Wenn es aber Autoren sind, die tatsächlich zu lesen wissen, die Organisation ein gutes Händchen für einen spannenden Mix beweist und der Moderator galant und schwungvoll durch den Anlass führt – wie es Severin Perrig im Kleintheater verstand – wächst dem Publikum das Sitzleder ganz von selbst. «Man muss vieles vergessen können», um die ideale Leere für eine solche Veranstaltung mitzubringen, witzelte Perrig zu Beginn und in der Tat: Das Programm sollte einiges an Füllmaterial für einen solchen Zustand servieren. Peter von Matt sinnierte später darüber, dass ein Schreibender sich stets über die «Lebenszeit», welche ein Leser dem Geschriebenen opfert, bewusst sein und sich daher auch ein Gefühl der Verpflichtung zu Qualität und Verspieltheit anhaften sollte. Gerade der erste Lesende, Stephan Thome, schien mit solchen Überlegungen vertraut, wenn er bereits vor der Preisgabe einiger Stellen aus seinem neusten Roman «Fliehkräfte» kokett darauf hinwies: «Das ist es was Kommunikation nach sich zieht – die Produktion von noch mehr Worten.» Auch sonst war die Bemerkung vielleicht nicht ganz zufällig, schliesslich stellte sich auch ein Rezensent der FAZ zum Neuling Thomes eingehend die Frage: «Braucht es wirklich knapp fünfhundert Seiten, um vom Unwohlsein eines Philosophieprofessors zu berichten?» Auch ohne das Buch gelesen zu haben, musste man beim Anhören des hessischen Schriftstellers die Frage ebenso wie jener Journalist mit ja beantworten. Die inneren Monologe des Romanhelden, der sein bisheriges Leben einfach hinter sich lässt, um eine Flucht nach Portugal anzutreten, stecken voller liebevoll und witzig gemalter Bilder, dass sich auch mal eine Kuh auf der Wiese wälzt, «als ob sie einen Lachanfall hätte». Da hatte es eine Lisa Elsässer schon bedeutend schwerer, nach einem Vortrag in Bühnenhochdeutsch von Thome dann auch noch Lyrik in urnerisch getränktem allemand federal lesen zu müssen. Nichts desto trotz schien das Publikum genügend Leere für melancholischere Noten wie das «Schächental, ausgeprügelt von Lawinen» mitgebracht zu haben. Der diesjährige Schweizer Buchpreisträger Peter von Matt las an diesem Abend nicht aus seinem Essayband «Das Kalb vor der Gotthardpost», sondern setzte sich zum Gespräch neben Perrig. Letzterer wollte die Diskussion vornehmlich auf Form und Wirkung des Essayschreibens lenken, setzte dazu den Germanisten schmeichelnd gar in den Vergleich mit Michel de Montaigne. Die 1937 geboren Koryphäe liess in seiner Gelassenheit auf dem roten Stuhl denn auch deutlich seine Erprobtheit in der Öffentlichkeit und auf der Bühne spielen, ohne dabei aber den schelmischen Humor und den kühlen Kopf eines immer noch neugierigen Academicus aufzugeben. Natürlich bestätigte er die Freiheit des Schreibens, welche die Wahl eines essayistischen Stils ermöglicht: «Man muss keine bestimmte Methode verfolgen oder ein bestimmtes Resultat haben.» Auf die provokant gestellte Frage hin, ob diese Form bei Historikern beispielsweise schlecht ankäme, meinte von Matt: «Es braucht immer Leute und Bücher, welche den Graben zwischen Universität und Welt überbrücken.» Leider gäbe es an der Uni heutzutage die Tendenz, unmöglich lange und komplizierte Dissertationen von den Promotionsstudenten zu verlangen, auf Kosten der Lebenszeit aller Beteiligten. Gleichzeitig hielt er aber ein Plädoyer für das universitäre Arbeiten auch nicht zurück. Die Leute hätten schliesslich manchmal komische Vorstellungen von der Uni, als ob da nur «Nerds» herumlaufen würden und von Anmerkungen müsse man sich indes auch nicht fürchten. Das seien schlichtweg Informationen, die eben am unteren Rand einer Seite stehen. Wichtig ist für von Matt, «dass man die Literatur nicht gleichsetzt mit Romanen» – eine Denkweise, die bekanntermassen zum Vorwurf von verschiedenen Seiten her führte, von Matt sei als Autor eines Essaybandes kein geeigneter Buchpreisträger. Obwohl sich von Matt dafür stark macht «dem ganzen Feld der Naturvermittlung durch Schreiben» den Status der Literatur anzuerkennen, war er nicht nur glücklich über seine letzte Ehrung: «Es war mir unangenehm, dass ich diesen Buchpreis bekommen habe. Ich wollte ihn eigentlich gar nicht und musste dann nachher auch in der ganzen Welt herumreisen.» Für den auflockernden Kontrapunkt des Abends sorgten Canaille du jour, bevor es in die letzte Leserunde ging. Mit Charme, Witz, musikalischer sowie textlicher Qualität brachten Max Christian Graeff (Gesang) und Christov Rolla (Klavier und Gesang) ein bisschen rauchige Kneipenluft ins Kleintheater. Die ins Deutsche übertragenen französischen Chansons - «Ich kann eben kein Französisch, das ist ja der Grund für diese Veranstaltung», versetzte Graeff – etwa ein «Ne me quitte pas» von Brel umgewandelt in ein «Bleib bei mir» sind bester Beweis dafür, dass auch so etwas in den literarischen Zirkus gehört. Nur haben das wohl leider einige Besucher, für die Bücherlesungen zum guten Ton gehören auch nach von Matts Statement über die Literatur und ihre unterschiedlichen Ausprägungen immer noch nicht begriffen und hielten jene Einlage für eine Gelegenheit zum Toilettengang. Die letzten beiden Autoren hatte man sich wohl nicht zufällig zum Schluss aufgespart. Mit Jenny Erpenbeck und Thomas Meyer standen nämlich nochmals zwei häufig diskutierte und daher bekannt und bekannter gewordenen Schriftsteller mit ihren Neulingen aus der letzten Sommersaison vor dem Rednerpult. Erpenbeck stellte ihr Lesekönnen mit ruhiger, aber eindringlicher Sprache souverän unter Beweis. Sie las den Anfang und den Schluss der fiktionalen Frauenbiographie und gab an: «Dazwischen findet das Buch statt». In ihrem Roman «Aller Tage Abend» lässt Erpenbeck mit einem geschickten Kunstgriff à la «Mein Name sei Gantenbein» in fünf Büchern ihre Heldin in unterschiedlichem Alter immer wieder sterben, um sich dann ein anderes Szenario auszudenken, in dem die Figur ihr Leben wieder fortpflanzen könnte. Auch der Jungautor Meyer demonstrierte sein vor allem unterhaltsames Redetalent, was bei einem durchwegs unterhaltsamen Buch wie seinem Erstling «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» auch zu erwarten sein darf. Wer es gelesen hat, weiss von der Komik darin. Vergleiche zu Woody Allen häuften sich in der Medienlandschaft. Meyer gewährt dem Leser in seinem Bauch denn auch eine Art Logenplatz im Kopf des jüdisch-orthodoxen Protagonisten, der einen beinahe cineastischen und witzig-überzeichneten Blick auf das in der Realität ziemlich abgeschottete Familienleben der Diasporagemeinde Zürichs ermöglicht. Die Reise des 25-jährigen Mordechai führt ihn aber zusehends weg vom Schosse der alles kontrollieren wollenden Mutter, der gluckenhaften «mame» und damit weg von seiner Heimat. Beim Auftritt des ebenfalls für den Buchpreis nominiert gewesenen Zürchers fällt auf, wie er fast schon überroutiniert, an die Lacher des Publikums gewöhnt er wirkt, wenn er aus seinem hochgelobten Neuling liest. Es bleibt daher spannend abzuwarten, ob er mit einem zweiten Werk dem ersten gerecht werdend nachlegen kann, oder ob das eintrifft, was gewöhnlich nach dem Hochmut folgt.