Freude, schöner Götterfunken

Mit Beethovens Neunter, dem kiloschweren Monument unserer klassischen Bildung, ging der grosse Beethovenzyklus, den Bernard Haitink mit dem Chamber Orchestra of Europe im Rahmen des Lucerne Festival gegeben hatte, zu Ende. Ein Bericht von vorderster Front der so genannten «Ernsten Musik».

D a s   K o l o s s e u m  Wir diskutieren über Autorenfilme, besuchen krude Kunstausstellungen in Hinterhofgalerien und lesen Dada-Gedichte. Aber natürlich sind wir einhellig der Meinung: Die Klassiker sollte man schon gelesen haben. Nun, was Faust und Co. für die Belesenen, das Kolosseum für Rompilger und Caravaggio für Kunstkenner, das sind Beethovens Sinfonien für die abendländische Musik. Warum also nicht hingehen und sie im Konzertsaal erleben?  «Darum»; denkt vielleicht mancher, wie ich nun im Foyer des KKL herumlungernd. Trotzdem: Da haben wir eines der besten klassischen Musikfestivals direkt vor der Haustür – andere reisen von überallher dafür an – und wir lassen uns abschrecken von ein bisschen Teakholz und Lackschuhen. Also nichts wie los: 

D i e   E r s t e   u n d   d i e   L e t z t e Die Erste und die berühmte Neunte, letzte Sinfonie von Beethoven stehen auf dem Programm: Zwei sehr gegensätzliche Werke ein und desselben Komponisten, die Zeitspanne fast seines ganzen Lebens umschreibend. Die beiden Werke sind klug ausgewählt: Nachdem das Chamber Orchestra of Europe mit dem Dirigenten Bernard Haitink im grossem Beethoven-Zyklus des Festivals dessen gesamte Sinfonien, Ouvertüren und Klavierkonzerte aufgeführt hat, lässt dieses letzte Programm das Publikum die Entwicklung Beethovens sinfonischen Schaffens quasi im Zeitraffer erleben. Die Sinfonie Nr.1 in C-Dur ist eine klassische Sinfonie, wie sie im Buche steht, beziehungsweise wir sie von Mozart und Haydn kennen: traditionelle Form in vier Sätzen, ganz im Schema der damaligen Zeit, und doch wimmelt es schon hier von verrückten Ideen und gekonnten Überraschungen, die der Dirigent mit grösstem Vergnügen auskostet. Die Interpretation ist kammermusikalisch klar, der Klang schlank, und jedes Tutti genau ausbalanciert. Mit wunderbar präziser Artikulation erweckt Haitink mit dem Orchester das schmucke, wienerische Andante genauso zum Leben wie das immer dialogisch erlebte Menuett. Zu Beginn des Finales spielt Beethoven mit den Erwartungen seines Publikums und serviert ihm stückchenweise eine ganz gewöhnliche Tonleiter. Nach diesem Witz kommen wir in den Genuss des flink und farbenreich wiedergegebenen Finales.  Farbenreich: So ist das Spiel des Chamber Orchestra of Europe überhaupt. Haitink reizt vor allem das Piano bis ins Äusserste aus. Das Publikum dankt es ihm mit einer bemerkenswerten Stille während des Konzerts: Bloss ein einzelner Räusper stört für einmal die spannunsvollen Piani. 

S e i d   u m s c h l u n g e n ,   M i l l i o n e n  Ist Beethovens Erste noch eindeutiges Kind der Wiener Klassik, sprengt seine Letzte die traditionelle Form. Das Chamber Orchestra of Europe zeigt nach der Pause grossen, beethovenschen Klang, ohne aber der Balance und Artikulation verlustig zu werden. Die Neunte ist der Klassiker der pompösen Feierlichkeiten. So sehr die grosse Geste in diesem Werk tatsächlich ein Stück weit Programm ist, öffnet Haitink sein Ohr aber ebenso fürs Abgründige, Zerrissene, das im Hintergrund lauert und immer wieder hervorbricht, am deutlichsten im Kopfsatz. Die Interpretation des ganzen Werks ist kompromisslos – nichts wird zugunsten des klassischen Schönklangs eingeebnet, was manchen vielleicht nach mehr beethovenscher Geste rufen lassen wird.  Im zweiten Satz erzeugt das Orchester eine selten erlebte Spannung: So wie der 80-jährige Haitink, der am Stock in den Saal geht und wegen einer Rückenverletzung im Sitzen dirigiert, diesen Satz hört, muss man einfach dranbleiben – er erlaubt sich, dem Orchester und dem mucksmäuschenstillen Publikum keinen Augenblick, abzuschweifen. Im Adagio des dritten Satzes führt das Orchester grosse Linien, die beinah Erinnerungen an Beethovens sinfonische Nachfolger der Romantik anklingen lassen.  Dann ist es soweit: Aus dem dunkelsten Hintergrund entsteigt langsam, erst ein schwaches, von Haitink fast geisterhaft interpretiertes Unisono, stetig wachsend und schliesslich mit Pauken und Trompeten auftrumpfend, die berühmte Ode an die Freude, aus der das monumentale, nimmer enden wollende Finale entspringt, (von unserer Zeit zu Bankenwerbung und Handyklingelton vergewaltigt). Der Schweizer Kammerchor (Leitung: Fritz Näf) ergänzt das Orchester mehr als würdig zu einem riesigen Klangapparat, dessen ganzes Potential Haitink, geschickt sparend, immer wieder ausreizen lässt. Auch ein stellenweise etwas gar greller Sopran (Sally Matthews) und ein etwas allzu schwacher Tenor (Steve Davislim) in dem Solistenquartett (mit Christianne Stotijn, Mezzosopran und Gerard Finley, Bariton) tun dem Gesamteindruck keinen Abbruch. Beethovens hehre erzieherisch-humanistische Ansprüche erfüllen ihre Wirkung in dieser Interpretation: «Alle Menschen werden Brüder» – heute Abend ist man geneigt, dies wahrhaftig zu glauben.  Spätestens bis zum unerbittlichen Gedränge an der Garderobe.