Flimmern in der Petrischale

«The Afterdark», das neue Album der Luzerner Band Hanreti, kann man sich auch anschauen: Der mehrheitlich animierte Film von Isabelle Weber erzählt die Geschichte einer wunderlichen Mission und einer Band in dauerhafter Orientierungsphase.

Zum Schluss also das grosse Aussterben. Der einzige Mensch, der noch übrig geblieben ist, bricht kraftlos auf der Eisdecke zusammen, bevor diese in ihre digitalen Bausteine zerfällt. Die Brocken schweben und rotieren durch den Raum, spiegeln neckisch das Sonnenlicht auf ihrer glatten Oberfläche. Nun tauchen zwischen den kristallinen Gebilden seltsam pulsierende Wesen mit feinen Tentakeln auf, die wie prähistorische Quallen anmuten, darum herum schwirrt rotes Plankton. Es geht noch weiter, das Treiben in dieser hellblauen Ursuppe, aber übersichtlicher wird es nicht mehr. Dazu spielt ein freundlich verstrahlter Popsong mit agilem Groove und die nicht mehr ganz so präsenten Stimmen singen davon, dass wir morgen alle aussterben werden. So heiter hätte man sich diesen apokalyptischen Sprung in die endlose Dunkelheit nicht vorgestellt. Oder war das alles sowieso nur ein Trip?

Wir befinden uns in den letzten Minuten des Films, den die Luzerner Künstlerin Isabelle Weber für «The Afterdark», das neue Album der Luzerner Band Hanreti, animiert und gedreht hat. Während der Albumfilm in den siebziger Jahren, bei «Quadrophenia» von The Who oder «The Wall» von Pink Floyd, die konsequente Überdehnung des Konzeptalbums war, ist die Verknüpfung von Musik und bewegtem Bild auf Albumlänge im Gegenwartspop zu einer eigenen Form herangewachsen: dem Videoalbum. So bleibt etwa die Geschichte im Film zu «Lemonade» von Beyoncé abstrakt, der Film wirkt eher wie eine Serie von visuell abgestimmten Videoclips. Was bleibt, ist die Einladung zur Vertiefung und eine Ahnung von Gesamtkunstwerk.
 

041-Das-Kulturmagazin-null41-Verlag-IG-Kultur-Luzern-Schweiz
Stil aus dem Albumfilm «The Afterdark»


Hanreti bleibt eine Popband
«The Afterdark»: Das zurechtgerückte Wort bezeichnet nun nicht die Zeit nach Einbruch der Dunkelheit, sondern eine Dunkelheit danach, eine, die nicht von dieser Welt ist. In seinen Songtexten reichert der Autor und Hanreti-Dichter Béla Rothenbühler dieses Endzeitbild ökologisch an, es geht um menschliche Hybris, Naturbeherrschung und -zerstörung. Vordergründig handelt «The Afterdark» von einer Antarktis-Mission. Isabelle Webers mehrheitlich computeranimierter Film folgt fünf Forschern, die in der südlichen Eiswüste landen und dort verschiedene Experimente durchführen. Doch die Expedition nimmt bald wunderliche Züge an und man beginnt sich zu fragen, was sie dort eigentlich suchen.
 

041-Das-Kulturmagazin-null41-Verlag-IG-Kultur-Luzern-Schweiz
Stil aus dem Albumfilm «The Afterdark»​​​​​​


Es ist kein Zufall, dass der stilistische Dreh dieses Albums genau in dem Moment einschlägt, als Bewegung in die Forschertruppe kommt. Einer trägt Laboranzug und Schutzhandschuhe und macht sich an den Instrumenten zu schaffen, er füllt ein Reagenzglas, bringt Mikroskop und Petrischale in Stellung. Auf der Tonspur kündigt eine agitierte Tonfolge etwas an, dann bäumt sich über einem kräftigen Krautrock-Beat ein wuchtiges Gitarrenriff auf. Die Musik von Hanreti zeichnete sich schon immer durch ein raffiniertes rhythmisches Gerippe aus, doch hier, im Song «Fade Away», entwickelt der Beat eine hypnotische Kraft, nach der die Band auf ihrem letzten, Indie-Folk-geprägten Album «Cherries Apples Pineapples And Limes» nicht gesucht hat.
 

041-Das-Kulturmagazin-null41-Verlag-IG-Kultur-Luzern-Schweiz
Stil aus dem Albumfilm «The Afterdark»


Das ändert nichts daran, dass Hanreti eine Popband bleibt. Das zeigt sich schon eindrücklich in diesem Song, wenn Sänger und Songschreiber Timo Keller mit seiner lässigen, aber auch bestimmten Stimme das ganze Gefüge der Instrumente sofort in wohlgeformte Strophen und Refrains fokussieren kann. Dieser Gesang will sich nicht einfach einfügen in die psychedelischen Grooves, er bringt stets einen Überschuss an Eigenwillen und Dramatik mit, behauptet Präsenz gegen die repetitiven und sphärischen Zerstreuungen. Und «Rusting Gold» ist auch einfach ein richtig schöner Popsong.
 

 

Während der Albumfilm in den siebziger Jahren, bei «Quadrophenia» von The Who oder «The Wall» von Pink Floyd, die konsequente Überdehnung des Konzeptalbums war, ist die Verknüpfung von Musik und bewegtem Bild auf Albumlänge im Gegenwartspop zu einer eigenen Form herangewachsen: dem Videoalbum.

 


Neue musikalische Wege
Doch der Film erzählt auch eine andere Geschichte über Hanreti. Die fünf Forscher, die sich in einer fremdartigen Landschaft zurechtzufinden versuchen, das ist natürlich auch eine Metapher für die Band, die sich auf ihren bisher fünf Alben immer wieder neue musikalische Wege ohne vorgespurte Richtung erschlossen hat. Ein punktgenaues Ziel gäbe es in der Antarktis ja schon, aber im Film ist bald klar, dass die Forscher ein solches nicht suchen. Stattdessen tun sich ihnen in der zunächst eintönig schimmernden Landschaft neue Welten auf: In der Petrischale beginnen die Kristalle zu flimmern, am Himmel wiegen sich Schwaden von Nordlicht.
 

041-Das-Kulturmagazin-null41-Verlag-IG-Kultur-Luzern-Schweiz
Stil aus dem Albumfilm «The Afterdark»


Auch die Experimente beginnen sich zu verselbstständigen, die Eissäule, die einer aus dem Boden fräst, steigt plötzlich auf in die Luft und dreht sich dort an Ort und Stelle, als wäre sie eine religiöse Wundererscheinung. Bevor man schlau wird aus diesem Zeichen, fliegt das Objekt plötzlich davon. Man muss lachen in Momenten wie diesem, weil hier die eigentliche göttliche Kraft plötzlich spürbar wird, die in diesen Bildern, die an die Ästhetik alter Videospiele erinnert, am Werk ist: die Computermaus der Regisseurin. Denn abgesehen von der ökologischen Apokalyptik, die ihre Dunkelheit hier nirgends so richtig ausbreiten kann, wirkt dieser Film wie ein visuelles Ritual, um einen durch die suchenden Bewegungen dieser Musik zu führen.
 

Hanreti: «The Afterdark»
Orange Peel Records. 2022.


Plattentaufe
FR 01.04.2022, 19.30 Uhr
Schüür, Luzern

Weitere Konzerte
FR 08.04.2022, 20.30 Uhr
Sudhaus, Basel

SO 10. 04.2022, 20.30 Uhr
Turnhalle, Bern

SA 23.04.2022, 22.00 Uhr
Royal, Baden


041 – Das Kulturmagazin April 04/2022

Text: David Hunziker
Bild: zvg

Wir brauchen dich als Abonnent:in!
Journalismus kostet und wir wollen auch in Zukunft ausgewählte Inhalte für alle zugänglich machen und kostenlos online veröffentlichen. Deshalb sind wir auf deine Unterstützung als Abonnent:in angewiesen. Jedes einzelne Abo ist wertvoll für uns und macht unser Schaffen überhaupt erst möglich. Wir freuen uns auf dich.

Abo im Online Shop bestellen