Farewell, Grinse-Punk

Treibhaus Luzern, 14.12.2013: Ein letztes Mal Punk, Hardcore und DIY-Kultur pur. Face The Front verabschieden sich. Und wie!

(Fotos: Renatinho, Demian Hartmann & Stoph Ruckli)

Die wohl wichtigste Punk-Formation Luzerns seit Millenniumswechsel sagt Tschau. Oder zumindest ein Drittel davon. Frontsau und Bassklampfer Alain Schurter verabschiedet sich Richtung Mutterland des Punk-Rocks, England. Für unbestimmte Zeit soll das sein. Nach sechs Jahren Punk-Rock-Praktizieren. Backflash: Gegründet 2007 als Quartett, dirigierten er und Gitarrist Chregi Limacher ab 2010 Face The Front durch die Wucherungen der Musikwelt, produzierten in dieser Zeit das Vorzeigewerk „Modern Values“. Mit Schurter geht aber nicht „nur“ ein Musiker fort, sondern eine Schlüsselfigur des hiesigen Geschehens. Unter dem hauseigenen Label SumsRecords förderte er verschiedene Bands im Punk- und Hardcorebereich, organisierte zahlreiche Konzerte und war eigentlich an jedem hiesigen Gig seiner favorisierten Musikrichtung anzutreffen. Und anschliessend im Backstage, beim Bier trinken. Bier, das floss auch an diesem Abend in Strömen. Drei HC-Punk-Formationen mit der Power von rasenden Tieren ergeben für das Publikum Marathon-Pogos und Fitness-Moshpits. Viel Spass, viel Schweiss, viel Durst. Das Schöne an den Musikszenen der harten Klänge ist ja, dass die Meute bei gutem Sound mitmacht. Nicht nur zwei Meter von der Bühne entfernt rumstehen und glotzen, sondern dabei sein, tanzen und zelebrieren. Zuhörer und Musiker werden eins. So sollte das eigentlich immer sein. So, wie an der Farewell-Show. Die deutsche Band Casually Dressed eröffnete als Ersatz für Your All Time Favourites. Leider verpasst. Zeit, Bus, Verkehr: In der perfekt erscheinen wollenden Schweiz haut das trotzdem nicht hin, Uhrenland und Präzisionskunst hin oder her.

Überyou: Zürcher Übershow Wie Imperfektion und grossartige Live-Musik zusammenpassen kann, demonstrierten Überyou. An der Restaurantbar im Treibhaus wurde noch über ein Trüppchen Zürcher gemunkelt, welches im Backstage ordentlich dem Alkohol frönen würde. Mensch ahnte Übles beim Erfassen einer heiseren, leicht lallenden Stimme aus dem Konzertraum. Ian Varesi gehörte das Organ und hei nonemol, er und seine Jungs zeichneten verantwortlich für einen der lustigsten Gigs dieses Jahres. Faszinierend, wie sie ihren unglaublichen Auftritt aufbauten. Die Stories des Fronters beispielsweise: „Habt ihr gewusst, dass man beim Kaffeeproduzenten Tchibo Messer, Schneidesets und, haltet euch fest, sogar Skijacken kaufen kann?!“. So totehrlich-amüsiert habe ich selten eine Ansage gehört. Aber auch für Fitness war gesorgt. Monitoren fungierten als Schemel, um so hoch wie nur möglich in die Höhe zu ragen, Kletterpartien auf begeisterten Zuschauern (und generell viele Ausflüge vor die Bühne) sowie dazugehörige Stürze inklusive. Treibhaus-Mülleimer wurden zum Herumfahren genutzt und ein Mikrophon zerstört. Haustechniker Timo Keller erlebte einen Abend mit viel Laufsport, denn irgendwas stellten die Zürcher immer an. Stets dabei ihr liebster Begleiter, die Ballantine‘s-Flasche: „Uf de Chregi“.

Faszinierend: Zwischen den Ansagen und Songs entstand ein interessanter Bruch: So lustig-unkonzeptionell Überyou auf der Bühne bei den Pausen wirkten: Sobald sie spielten, brannte die Luft vor kraftvollem Herz und präziser Energie. „the band with a plan“? – Aber sowas von, will mensch fast sagen. Gänsehautmomente dank feurigen, grandiosen Melodien, tighten Gitarrensoli und zum Schluss eine Fötzelkanone: Überyou zeigten an jenem Abend, wie Schweizer Bands in meinen Augen zu sein hätten: Durchaus selbstironisch und provozierend, mit einem Augenzwinkern, selbstbewusst, enthusiastisch und nicht verbissenen ernsthaft. Die Musik erledigt dann den Rest. Im Endeffekt geht’s vor allem um Energie und die war vorhanden. True HC-Attitude, viel Punk-Spirit: Eine unvergessliche Show.

Face The Front: Cheshire-Cat of Punk Die Zürcher haben so stark vorgelegt, dass gewisse Stimmen im Raum befürchteten, Face The Front würden abfallen. Tatsächlich begannen die Luzerner traditionell, aber das Grinsen von Alain Schurter – der Grinse-Punk – liess Hoffnung und Erwartungsspannung ineinander verschmelzen. Ähnlich der Cheshire-Cat für eine Überraschung bereit, kam diese beispielsweise in Form von Mike Portmann, Frontmann des einstigen SumsRecords-Gewächs A River Crossing auf die Bühne. Das galante Doppelperformen funktionierte, zudem die Band ihre zahlreichen Zuhörer ohnehin schon im Bann hatten: Um die hundert Leute feierten im Konzertraum und es sollte noch besser kommen. Denn plötzlich ging alles schnell: Drummer Arthur Londeix (notabene Fronter bei Tea Time, einer weiteren SumsRecords-Band) packte seine Trommeln und baute das Set im Publikum wieder auf. Wenn schon mit dem Besuchern Abschied feiern, dann richtig! Die Hürde Bühne war fortgeschafft, ebenso die restlichen Blockaden. Während Fans die Songs der Luzerner ins Mic gröhlten, knallten diese noch einmal los und liessen das Treibhaus vollends explodieren. Eine Mischung aus Circle Pit, Tanz und dem Zelebrieren der eigenen Hymnen war’s. Dafür muss mensch nicht ins Amiland oder in die Keller von Grossbritannien: Das funktioniert auch hier. Ein würdiger Schlusspunkt.

Farewell, Siegfried & Roy Die Superlativen stapeln sich in diesem Text, aber wer dabei war, wird sie doppelt und dreifach unterstreichen. Der Spirit wird erhalten bleiben: Gitarrist Chregi Limacher hat bei Guns Love Stories „Aysl“ gefunden, während sich Londeix auf eigene Projekte konzentriert. Mit dem vorübergehenden Ende von Face The Front entsteht aber trotzdem eine grosse Lücke. Da Schurter diesen Artikel lesen wird, sei ihm an dieser Stelle zum Abschluss eine Notiz hinterlassen: Lieber Alain. Du und dein Chregi haben einer Szene, genauer gesagt der Luzerner Punk-Szene als Traumpaar Gesicht und Glamour gegeben. So wie Courtney Love und Kurt Cobain dies für den Grunge taten. Oder Siegfried & Roy beim Zaubern. Du hast eure Szene in unserer Stadt am Leben erhalten. Dank Leidenschaft, Kalkül und Spass. Immer dabei, immer präsent, immer gerne gesehen. Ich wünsche dir, dass du in England deine Abenteuer erleben, noch tiefer in „deinen“ Sound eintauchen und Bier weiterhin geniessen kannst. Und mir jederzeit ein Bett (inkl. English Breakfast) offerierst. Deinen Bass nehme ich sonst, äh, back to topic: Wir werden dich vermissen. Komm uns besuchen. Bring Bier mit. Tonight, you are greater than giants, the greatest of all: Farewell, Grinse-Punk.

Alain Schurter sagt Tschüss!