Fantasie an die Macht!

Theater Stans, 20.01.2018: Was ist Lüge, was Wahrheit? Wie steht es damit in der Politik? Oder überhaupt in der Welt und im Leben? Fragen, die das Stück «Chlaus Lymbacher» uns heute stellt. Und vielleicht Antworten liefert. Zu erleben im Theater Stans, wo Annina Dullin das alte Stück von Meinrad Inglin (1893–1971) mit ein paar dezenten Neuerungen auf die Mürg-Bühne bringt.

Vielleicht kennt man die beiden Verfilmungen «Der schwarze Tanner» und «Das gefrorene Herz» durch den nachmaligen Oscar-Preisträger Xavier Koller. Das sind Stoffe des Schwyzer Autors Meinrad Inglin, als dessen Opus magnum der Roman «Schweizerspiegel» gilt. Untypisch für Inglin ist «Der Robbenkönig» gleich doppelt: Er hat es, irgendwann in den 1940er-Jahren, auf Mundart verfasst. Zweitens: «Der Robbenkönig» ist Inglins einzige Theaterarbeit. Inglin-Biografin und Nachlassverwalterin Beatrice von Matt hatte das Manuskript nach Inglins Tod entdeckt. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis das Stück 1976 erstmals (im zürcherischen Hinwil) zur Aufführung gelangte. Man hatte «Chlaus Lymbacher» den neuen Titel «Der Robbenkönig» gegeben. Ist Inglin verstaubt, heimattümelnd, ernst? Iwo. Beatrice von Matts Ehemann Peter von Matt, aus Stans stammend, gegenüber Radio SRF über das Stück anno 2014: «Das ist witzig, gescheit, berührend. Das ist die Geschichte von einem Heimkehrer, einem Lügner und Flunkerer, der die Leute glauben macht, er habe eine grosse Karriere gehabt. Irgendwann zieht er sich den Zorn der Spiesser zu und muss sich absetzen.»

Chlaus Lymbacher ist also zurück in seiner Heimat nach 30 Jahren «fort vo hie», «z’Amerika» ist er gewesen, «uf de ganze Wält umecho», auf einem Meerschiff hat er die Gastronomie besorgt für 1000 Personen. Und jetzt der «Ochsen», die Dorfbeiz, die er dank seiner Heirat mit Anna erstanden hat. Die Beiz läuft nicht gerade gut. Auch hat er beim Zimmermann noch Schulden von 3000 Franken. Schon erzählt er die quasi titelgebende Geschichte von der Robbenjagd in der Arktis, als er, sich unter die «Seehönd» in Tarnfell mischend, eine gegnerische Jägergruppe in die Flucht schlug. Ist es auch wirklich wahr? «Was heisst scho d’Woret?»

robben2Bald wird's politisch

Zur Einstimmung hat Johann, eine Art Dorfdepp, auf der Mundharmonika weltläufige Töne geblasen, das Morricone-Erkennungsmelodie-Motiv aus «Once Upon A Time In The West» klingt an, ebenso ein Blues. Die Bühne öffnet sich mit einem anderen Medium ein erstes Mal in eine weitere Dimension: Per Live-Video geht’s hinunter in die Beizenküche, wo die Friktionen zwischen Chlaus und seiner scheidungswilligen Ehefrau zur Sprache kommen. Dann wird’s bald einmal politisch. Die Parteiversammlung der FFF (FleissigFreiFurchtlos) hat einen vakanten Grossratssitz zu besetzen. Dr. Burkart tritt an zur Ersatzwahl, erkennt nach einer Rede im schönsten Politikerleerformelsprech aber selber, dass er das nicht kann. Spontan kommt man auf «Ochsen»-Wirt Lymbacher, der Vorstellungen von einem garantierten Grundeinkommen und von der Freilassung aller Zoo-Tiere (vor allem der Seehunde) formuliert. Prompt wird er als Ersatzkandidat nominiert. Wird er auch gewählt werden?

Es wird gefestet und dabei auch offenbar, wie die bebrillte «Ochsen»-Serviertochter aufs Übelste gemobbt wird. Ein Gast formuliert es sensibel so: «E chli es schöners Meitschi chöntsch scho astelle. Me muess au e chli uf das luege.» Später wird Vroni in kleinem Kreis mit gewaltigen Zerstörungsfantasien ausrasten. Sie und Chlaus, das sind beides Aussenseiter, so wie auch Johann.

Parteipräsidentin Dr. Steiner telefoniert mit dem Handy auf Englisch und Französisch draussen (Video) in der Welt herum und findet heraus, dass das alles nicht stimmt, was Lymbacher aufgetischt hat. Die Brasilien-Connections etwa – alles Lug und Trug. Anna Lymbacher, immerhin, verteidigt ihren Noch-Ehemann, er habe ein grosses Herz und sei halt manchmal wie ein grosses Kind. So kann man es auch sagen: Er schmückt gerne aus. Jetzt wieder politisch betrachtet, so einmal Burkart: Man habe die Wahl zwischen einem qualifizierten Mann und einem Original. Welchem mag man den Vorzug geben?

Dem Sonnenaufgang entgegen

Ein Deutscher lässt sich bereits die Liegenschaft zeigen. Er wird den «Ochsen» kaufen. Lymbacher kann nur noch traurig konstatieren: «Das huere Gäld!» Ihm bleibt lediglich der Abschied. Mit ihm: Vroni und Johann. Zu dritt sieht man sie im Schlussbild ab Video dem Sonnenaufgang entgegenschreiten – «i d’Wält use». Kein Scheitern, ein Aufbruch.

robben3Reizvoll zeigt sich in der Inszenierung von Annina Dullin der wiederholte Einsatz von Live-Video (am Schluss freilich ist es Fake-Realtime). Gespielt wird zurückhaltend, nie ufert es ins Groteske oder Übertriebene aus. Verhalten auch die Interpretation der Titelfigur. Rolf Steffen gibt seinen Lymbacher nie als lauten Bluffer, keineswegs als selbstsicher Auftrumpfenden, vielmehr als sympathischen Flunkerer, Fantasten und Träumer. Der «Ochsen» ist Hauptschauplatz, unaufgeregt-karg eingerichtet, wobei sich das Bühnenbild zwischendurch durch überraschende Aufwärtsbewegung ins Weltall oder in die Arktis weiten kann. Schön die seltenen Gesangseinlagen, da wird Ravels «Bolero» gesummt oder kurz Queens «Bohemian Rhapsody» mit Mundarteinlage a cappella gesungen.

Und die Moral von der Geschicht? Vielleicht: Traue der vernunftgeleiteten Lebensbewältigung alleine nicht. Zeige Wagemut. Passe dich nicht an. Bleibe original-authentisch. Und: Fantasie an die Macht!

Der Robbenkönig
Von Meinrad Inglin
Theater Stans, Mürgstrasse 6, Stans

Aufführungen bis SA, 24. März

Regie: Annina Dullin
Bühnenbild: Viola Valsesia
Kostüme: Barbara Medici
Maske: Madleina von Reding
Lichtdesign: Martin Brun
Dramaturgie: Lia Schmieder
Gesangscoach: Christov Rolla

Chlaus Lymbacher: Rolf Steffen
Anna: Patricia Niederberger
Vroni: Michelle Elmiger
Johann: Hannes Büeler
Dr. Steiner: Pia Murer
Dr. Burkart: Albert Müller
Rüegg: Guido Widmer
Müller: Alfons Liner
Direktor Wäber: Guido Dillier
Gert Bohnensack: Arne Domrös