Falsche Hasen mit dritten Zähnen

Loge, 7.1. 2014: Da zieht man gierig ein Cover der «Dead Kennedys» hervor, um sich und die Nachbarn auf den Dienstagabend einzustimmen, und stattdessen erklingt dann «This is not a Love Song» von PIL. Aber immerhin: »I’m happy to have, not to have not …» – Die Werbung hatte für die dritte Lesung von Jan Off in Luzern ein Szenario der besonderen Art erwarten lassen: «Irritierendes und Verstörendes vom dunklen Grafen des Punkrock» stand auf dem Plakat der LOGE am Helvetiaplatz. Doch schon das zwar spärliche, aber immerhin anwesende und verhalten amüsierte Publikum zeigte rasch, dass die Plattensammlung da wohl etwas durcheinandergeriet.

Um es gleich vorwegzunehmen: Jan Off ist ein ausgesprochen sympathischer Mensch, ein Hamburger Hüne mit riesigen Pranken, väterlich-sonorem Polterbass und aufrechter hartlinker Gesinnung, wobei das mehrfach aufblitzende Adjektiv «radikal» auch so eine Sache ist, unter uns etwa 50-Jährigen. Wer «damals» – sagen wir: 1980, als Jan Off (Jahrgang 1967, geboren und aufgewachsen in Finnland) geradewegs ins Kader der Zahnspangenpunks schlitterte und sich vielleicht die erste Lederjacke vom Konfirmationsgeld kaufe – wer damals also radikal genug war (im damaligen Sinne), kann heute längst nicht mehr in der Loge sitzen und einer sogenannten Punklesung lauschen. Die auch gar keine solche, aber wohlgemerkt eine sehr unterhaltsame Bekenntnislesung eines guten Schriftstellers und eines vermutlich feinen Menschen war. Jan Off ist ein glänzender Unterhalter, ein Moderator mit physischer Wucht und sprachlicher, menschlicher Eloquenz. Er sieht aus wie Majakowski, dachte ich anfangs, um ihn später eher bei Joseph Beuys zu verorten. Jedenfalls hat er einen markanten Schädel mit prächtiger Glatze, einer von jener Art allerdings, die weder Angst noch Schrecken verbreitet. Ausser bei seinen eventuellen Gegnern in den Strassenszenen der frühen Jahre. Und zu jenen möchte man angesichts der Wucht dieses Körpers, dieser Stimme und auch dieser Texte nicht gehören. Die Texte – nun ja, was ist denn literarischer Punk? Ich hatte mir in Unkenntnis von Offs bisherigen Werken mehr Splitter und Bruchstücke vorgestellt, abstraktere Szenen, Fragmente, Songs wie Sex in der U-Bahn: kurz, hart und dreckig – und selbstverständlich ohne Fahrschein. Stattdessen kamen vier Erzählungen in Magazinkolumnenlänge, beginnend mit einer aufmerksamen Betrachtung der gesellschaftlichen Dimensionen des Massensports: «Fussballfanaten Wachkomapatienten 2012». Off forderte die linksradikalen Wahrheiten in den Fussball zurück und regte an, selbst wieder aktiv zu werden – zur Not auch auf den Fluren der Agenturen für Arbeit. (Tatsächlich blieb dabei so manch feiner Witz über deutsche Zustände dem hiesigen Publikum verborgen.) Mit «German Gemutlichkeit» ging es tiefer hinab ins Hamburger Millieu, wo sich die Gestrandeten treffen: Vincent (der sich mal mit einem Schwingschleifer am Ohr kratzen wollte), Afghanen-Sigi, Beni Amin und all die anderen Nachtgestalten, herzlich und unterhaltsam ins Spiel gebracht, aber weder verstörend noch irritierend, geschrieben mit dem urwüchsigen Anstand eines in Würde gealterten Szeneautors. Ein wenig kam es mir – zumindest an diesem Ort – wie eine neue Staffel von Käpt’n Blaubär vor, gesprochen von Wolfgang Völz, ein Betthupferl für doppelverdienende Middleager. Auch als uns die Story nach dem Genuss eines «falschen Hasens» (in Deutschland das Synonym für einen Hackbraten) auf eine Expedition zum exkrementenreichsten Abort der Hansestadt schickte, öffnete sie uns nicht wirklich das Schattenreich der Ekelträume, sondern bot bodenständige authentische Poetryslam-Unterhaltung. Lediglich «Judgement day, Dicker» wich von den Berichten aus einer stehengebliebenen Zeit ab, als eine leicht erzählte, aber bitterscharfe Betrachtung aus dem Schulalltag, in dem sich eine Gruppe Underdogs gegen die Repressalien der MMKE, der Monster Mafia Killer Crew zur Wehr setzen muss und sich mittels zahnfarbener Second-Hand-Blazer und sich rasch anpassender Frisuren zur «Merkeljugend» formiert. Den Abschluss der einstündigen Lesung bildete schliesslich der «Buchmesse-Blues», eine heiter uneitle Betrachtung des Off-Autoren-Elends und der Absurditäten der Verlegerwelt. Zwischendurch liess der dunkle Fürst der Finsternis in jovialer Moderation einige Bezüge zum «Herrn der Ringe» fahren und immerhin ging es nicht um Potter oder gar die Chroniken von Dingsbums. Nebenbei empörte er sich – natürlich zu recht – über die zur Zeit wieder ausserordentliche Willkür und Gewaltanmassung der Hamburger Polizei, er lächelte über jugendliche Vollbartträger und zugleich darüber, dass die old-school-Bands einst schon mal ihre Konzerte verweigerten, solange noch Bartträger im Saal waren. Und herzerfrischend platt und überzeugend platzierte er mehrfach die Überzeugung, in dieser formalistischen, vernunfts- und repressionsorientierten Zeit eigentlich wieder mit dem Rauchen anfangen zu müssen, zumindest überall dort, wo man es nicht mehr darf. Ungehorsam als erste Menschenpflicht. Das Publikum der Loge blieb jedoch erschreckend brav; keiner von uns traute sich zum unmittelbaren Vollzug. Eine Lesung ist schliesslich nicht das Leben. Oder? In einem Interview mit der New York Times soll Jan Off auf die Frage nach dem, was ihn zu Schreiben antreibe, geantwortet haben: «Ich begreife das Schreiben in erster Linie als Akt der Notwehr.» In der Loge habe ich davon ehrlich gesagt nicht viel mitbekommen. Kunst ist Kunst und Punk ist Punk. Im Cover, wie erwähnt, die falsche Platte. Aber auch eine hörenswerte. Denn als Trost hat Jan Off mir die Neugier geweckt, mehr von ihm zu lesen, und das ist doch schon viel. Seine Bücher (zuletzt «Metastasen-Mambo») erschienen in verschiedenen Verlagen, meist im Ventil-Verlag Mainz. – Zu den guten Vorsätzen des frischen Jahres (Sätze sind Urteile; Vorsätze sind Vorurteile) gehörte, zur «Punklesung» gleich mal einen kernigen, gemeinen und schonungslosen Verriss ins Kulturteil zu schieben. Daraus wurde nun nichts; verschoben auf demnächst.