Explosion in der Eichenschatulle

Es gibt sie, Konzerte, an welchen die Vorband dem Hauptact die Show stiehlt. So geschehen an diesem Abend im Südpol. Ohne allzu martialisch wirken zu wollen: JJ & Palin haben die Eiche respektive I Am Oak gefällt. Und den hier Schreibenden darunter erschlagen.

Man könnte diesen Text jetzt wie folgt beginnen: «Ein Konzert mit zwei Bands. Eröffnen tun XYZ». Es wäre auch möglich, so loszulegen: «Das Konzertlabel ‹erasedtapes› beschert Luzern einmal mehr ein musikalisches Schmankerl». Am einfachsten wäre es wohl, «Südpol, Donnerstag 18. April 2013: Diese Bands, jener Musikstil, das war gut, jenes schlecht, aber im Endeffekt ganz nett» zu schreiben. Vorneweg: Alle drei Anfänge funktionieren, wirken aber ein wenig fahl. Das Problem liegt tiefer. Es brauchte schon fast eine Grundsatzdiskussion über die Tätigkeit des Musikjournalisten und die Angemessenheit eines Textes. «Komm zum Punkt, wir wollen über das verdammte Konzert lesen und nicht dein Selbstschauspiel lesen», sage ich mir selber. Das Konzert hatte tatsächlich eine gewissermassen erschlagende Wirkung, die die eigene Schreibfähigkeit eine gute Runde blockiert hat. Wagen wir also den Versuch, diesen musikalischen Abend zu erfassen. Und dabei nicht auszuufern. Sarah Palin (der Name basiert auf einem Witz von Rapperin Big Zis) ist keine grosse Rednerin. Steht vorne am Mikrophon, wahlweise mit Banjo, Telecaster oder Akustik-Gitarre, kommt schnell zum Punkt. Für den heutigen Abend im Südpol erscheinen JJ & Palin in Trio-Formation ohne Blasinstrumente und Piano. Die Band wird vorgestellt: Cyril Hassler alias Sirup Gagavil an der Gitarre und am Bass. Samuel Messerli hinter dem Schlagzeug und ausgestattet mit spannenden Perkussionsinstrumenten (unter anderem einem Honigglas). Letzterer ersetzt neu Domi Chansorn. Im ersten Moment empfand man das als schade. Chansorn ist eine Wucht an den Drums. Man hätte ihn an diesem Abend schon gerne erlebt. Doch Messerli bot ebenfalls einen tadellosen Job, trommelte sich die Daumenknöchel am Honigglas heiss und groovte so kräftig wie zugleich sanft. Faszinierend. Genau hier beginnt das tolle Dilemma mit JJ & Palin: Während an verschiedenen Ecken und Kanten der Musikwelt gestritten wird – zu pompös, zu schlicht, zu poppig, zu experimentell, oh my god, Gitarrensolo – bringt das in Zürich angesiedelte Trüppchen seinen verschrobenen Art-Folk-Country-Rumpel-Pop, kurz Wohnzimmer-Pop (ui, welch Stil) mit allerlei Elementen auf die Welt. Und baut ein, was auch immer gerade passen könnte. So liefert Gitarrist Hassler seine Effekt-Licks spannend sowie intelligent und ins Solo baut er auch mal eine blitzschnell gespielte Skala ein. Ob die Band zu dritt oder mit einem ganzen Orchester im Rücken spielt, ist sekundär: JJ & Palin faszinieren in jeglicher Form. Das Stimmorgan von Sarah Palin ist dabei eine Klasse für sich: Kernig, mit diesem sagenhaften Vibrato, kontrolliert wie ein gigantischer wilder Löwe in einem Käfig, immer mit gespannter Grundstimmung. Wechselt sie dann noch zu raschen, tiefen Sprechgesang-Parts, ist die Welt so dunkel wie schön. Spricht die Sängerin hingegen zum Publikum, wirkt das wie in einer Stube, wo man einer älteren, zackigen Dame zuhört: So präzise wie verschroben-amüsant. Und ein wenig irritierend. Gänsehaut, die gab‘s aber erst im ganz letzten Moment des Konzertes, trotz konstant vorhandenem Potenzial. Dafür gibt’s zwei Gründe. Erstens stand das Luzerner Konzertvölkchen (immerhin um die 20 Nasen haben sich schon eingefunden) bei der Bar nahe Eingang. Zwar wurde zugehört und – zum Glück – nicht getratscht. Aber entweder gab’s was gratis im hinteren Bereich des Raumes oder vor der Band lag ein gigantischer Magmagraben. Dabei klang es vorne ebenfalls sehr gut und weh getan wurde auch niemanden. Kann aber sein, dass Sängerin Palin – ähnlich einer Evelinn Trouble – ein wenig einschüchternd wirkt durch ihre oben beschriebene Art. Sei’s drum, Charakterköpfe braucht unser Ländle. Der zweite Grund bewegt sich auf musikalischem Terrain: Wie schon angesprochen, war die Musik zum Zerreissen gespannt, aber stellenweise fast ein wenig zu kontrolliert, gerade punkto Stimme und Songwriting. So erfolgte der finale Ausbruch erst gen Schluss, dafür aber umso schöner und intensiver. Vielleicht haben das zurückhaltend agierende Publikum und die etwas kühle Südpol-Atmosphäre an diesem Abend aber ebenfalls ihren Teil zur Stimmung beitragen. Trotzdem: Das (leider ein wenig kurze) Konzert war eine Klasse für sich. In den verschrobenen Arrangements sind so viele spannende Parts und Dinge verpackt, die JJ & Palin in kreativster Art und Weise ausleben. Damit schafft sich die Band selbst ein Monument, das sie wohl in nicht allzu langer Zeit in Sphären von Sophie Hunger & Co erheben könnte. Herrlich. Wer’s verpasst hat, ist selber schuld. Die Explosion in der Eichenschatulle. Kontrolliert, spannend und doch ordentlich Gänsehaut(-Potenzial). So viel passiert in einem kleinen, harten Behältnis. Das Berner Café Kairo hat’s in einem Promo-Text über die Band relativ passend ausgedrückt, aber formulieren wir dessen Quintessenz ein wenig um: In ein paar Jahren werdet ihr über diesen Abend sagen: «Ich war beim Luzerner Debüt von JJ & Palin im Südpol dabei!»

Jetzt noch angemessen über den eigentlichen Headliner I Am Oak zu schreiben, täte der Atmosphäre dieses Textes unrecht. Die Indie-Folker waren so schön wie langweilig anzuhören. Ein bisschen Schunkeln am Donnerstagabend, aber nach zwei, drei Stücken hat man es gehört. Am interessantesten erschien noch die Tatsache, dass der Bassist wie Kris Novoselic von Nirvana ausgesehen hat und diese Aussage angeblich an fast jedem Konzert zu hören bekommt. Sänger Thijs Kuijken hingegen ähnelte mit seinen langen Haaren einer Mischung aus Kurt Cobain, Steven Wilson und Cilian Murphy (der Scarecrow von «Batman Begins»). So spukte von Beginn an folgendes Zitat im Schreiberkopf: «I Am Oak zuzuhören ist in etwa so spannend, wie wenn man einer Eiche beim Wachsen zuschaut: Ein schöner Anblick, aber wirklich interessant ist das nicht». Trotzdem: Das Luzerner Publikum traute sich endlich nach vorne, nicht zuletzt dank der durchgehend sympathisch-charmanten Art der holländischen Formation. An dieser Stelle ist es wieder einmal Zeit, die Damen und Herren vom Luzerner Konzertlabel «erasedtapes» zu würdigen. Im regelmässigen Rhythmus lädt das Quartett Acts ein, welche vorwiegend die Indie- und Folk-Szene abdecken. Besucher vom Treibhaus Luzern und dem Südpol kommen so immer wieder in den Genuss von Formationen mit Trend-Potential. Gelegentlich gibt’s auch mal nen Flop. Aber mit Namen wie JJ & Palin und Ende Mai Chet Faker (!) liefert das Label auch im 2013 wieder grossartige Highlights auf dem Weg nach oben. Ein absoluter Gewinn für die Musikszene Luzern! Nun ist dieser Text doch noch ausgeufert, aber das ist vielleicht auch der Sinn und Zweck davon. Über eine Band wie die Zürcher Formation angemessen zu schreiben, beinhaltet ein Versprechen für die Zukunft. Und dieses muss in einem grösseren Rahmen betrachtet werden: Die Schweizer Musikszene um Namen wie JJ & Palin, Domi Chansorn, Evelinn Trouble, Julian Sartorius, Summit, Alvin Zealot und und und (man konsultiere mal schweizerleckerbissen.ch, Mammamia!) boomt auf innovative Art und Weise wie selten zuvor. Natürlich mokiert irgendwo der Mötzli (ich vermeide das Wort Hipster) und verweist mit ausgestrecktem Zeigefinger und hochgezogenen Augenbrauen ins Ausland. Aber gerade dieser Abend hat bewiesen, dass Schweizer Musikformationen sich längst nicht (mehr) verstecken müssen. Im Rahmen von musikjournalistischer Tätigkeit gilt es, Trends zu setzen und gerade jetzt mit so viel nationalem Potenzial auch die eigene musikalische Umgebung zu unterstützen. Es soll Platz eingeräumt werden für eine Szene, die sich im Bereich der Popularität ein wenig unterhalb von einer Sophie Hunger bewegt, aber durchaus in solchen Sphären Musik machen kann. Selbstverständlich ist Hunger nicht das Non plus ultra. Doch im Anblick der medialen Euphorie gegenüber ihren Werken vermisst man in der Schweizer Medienlandschaft andere lokale Namen, die ausführlicher, differenzierter und vor allem prominenter thematisiert werden. Namen wie beispielsweise JJ & Palin, die jene Thematisierung nicht nur in Anbetracht dieses Konzertes verdient hätten.