Es wird verkuppelt, genexted und mit Rosinen um sich geworfen

Südpol, 9.5.2014: Das Nachwuchsformat Tankstelle lädt zur kleinen Werkschau der Gewinnerproduktionen im Bereich Bühne; dreimal zwanzig Minuten im Zeichen der Verhaltensforschung bei Mensch und Tier.

Die Nachwuchsplattform Tankstelle, initiiert von Südpol, Kleintheater und Foolpark Studios, fördert seit zwei Jahren das junge Kunstschaffen in den Sparten Bühne und Musik. Waren es im vergangenen Jahr – bei der ersten Durchführung der Tankstelle Bühne – noch vier ausgezeichnete Produktionen, gab es aufgrund sinkender Anmeldungen in diesem Jahr drei Gewinnerteams mit ganz unterschiedlichen Darbietungen. Ohne Pausen und mit pünktlichem Beginn wird das Publikum von der mittleren Halle in die kleine Halle und über Zwischenstopps wieder in die mittlere Halle geführt. Aber ruhig alles der Reihe nach.

Partner finden leicht gemacht Wer aufgrund der Titelgebung des ersten Beitrages vom Zufallkollektiv eine frivole Sexorgie oder eine schlüpfrige Konferenz zur Triebtätigkeit unserer welschen Kollegen erwartet hatte, wurde enttäuscht. Anstatt nackter Leiber sassen an einem unscheinbaren Tisch, flankiert von Flipcharts und Hellraumprojektor, zwei graue Mäuse in Business-Anzügen und dem gierigen Blick von Staubsaugervertretern. In Tat und Wahrheit handelt es sich um zwei Experten für menschliche Verhaltensforschung, gespielt von Nicole Lechmann und Nicolas Müller. Ihr Spezialgebiet: Paarforschung. In ihrem Vortrag stellen sie die perfekte Formel für die perfekte Partnerschaftssuche vor, konsequenterweise mit strengem Ablaufplan. Erstens: Persönlichkeitstest. Zweitens: Matching. Drittens: DNA-Kompatibilität. Soweit so gut. Wer sich bis dato noch nicht wie an einer Scientologyanwerberveranstaltung fühlte, der mochte gespannt zuhören, insbesondere all jene Singles im Publikum. Das Ganze klang vielversprechend, wissenschaftlich fundiert recherchiert und zigfach angewandt und mit berauschender Erfolgsquote. GLA 1-2-6-G Matching. So der Name der ominösen Liebesformel mit Soforteffekt und Depotwirkung. Der adrett gekleidete Herr mit froschmännischem Akzent erklärt fein säuberlich die Anwendungsmechanismen, untermalt mit narrativen Beispielen und herausragenden Prozentzahlen des Erfolges. Die obligate Frage, inwiefern Harmonie und Gegensatz in einer Beziehung funktionieren, bleibt unbeantwortet und mit propagandistischen Worthülsen in die Wüste geschickt. Die Formel macht es aus, und zwar nur diese. GLA 1-2-6-G Matching heisst das Zauberwort. Mit Chorusstimmen und einfachen Gesten wird es uns eingetrichtert. Man erinnert sich an die flauen Werbungen von Parship und Elite Partner, Singles mit Niveau werden am Laufmeter gesucht. Das Zufallkollektiv gibt uns eine geistreiche, nonsensgefüllte Persiflage auf den gegenwärtigen Kupplungswahn in der virtuellen Welt. Dann Zack und Bumm, dritter Punkt: genetische Kompatibilität. Die Bühne verwandelt sich mitsamt Protagonisten in einen billigen Herzblatt-Abklatsch. Glitzervorhang und neonrotes Licht erinnern an einen zweit- oder drittklassigen Nachtklub, den man erst in den frühen Morgenstunden, wenn überhaupt, zu betreten wagt. Whitney Houstons I Wanna Dance With Somebody verstärkt die diabolische, sektenähnliche Darbietung und wird zu Satans Werbemaschinerie für die (anscheinend) perfekte Paarfindung. In David Copperfield-Manier wird nach den kompatiblen DNA (oder HLE?) Strängen gesucht, und zwar mit einem Duschschlauch, der wie von Zauberhand durch den Rachen der Dame schlüpft, bis er zwischen den Beinen wieder hervorkriecht. Das Experiment, die Formel scheint zu passen. Die Fruchtbarkeitsübereinstimmung ist gewährleistet. Für den Zuschauer gibt es eine kleine Knutschereishow. Mehr nicht. Oder doch? Ein blanker Arsch und eine Unterhose mit dem Stücktitel Die Welschen ficken besser werden dem Publikum zum Schluss entgegen gehalten. Und irgendwo taucht noch ein bisschen Blut auf und man fragt sich am Ende, wer nun tatsächlich ein psychologisches Gutachten nötig hat.

Ich chatte, also bin ich Setzen sie sich auf die Kissen, Stühle oder direkt vor einen Laptop. Die verhaltenstechnische Aufforderung lässt das nächste Stück von und mit Jana Schmid und Seraina Stucki einleiten. Stories within Chatroulette – Eine Performance, ein Erlebnis, ein Eintreten in eine Flimmerwelt und andere Weiten und Abgründe des Online-Daseins erwartet uns. Chatten? Macht man das überhaupt noch? Hört man damit nicht mit 16 Jahren normalerweise auf? Scheinbar eine Fehlinterpretation. Was bewegt die Menschen, online zu sein? Fragen wir doch nach. Über 3000 Leute könnten einem auf der Onlinediskussionsplattform Chatroulette.com zufällig zugewiesen werden. Egal wie alt, egal wie viele tausend Kilometer entfernt, egal zu welcher Uhrzeit. Internet halt. Orts- und zeitunabhängig. Die junge Frau mit Nerdbrille beginnt zu sinnieren, tauscht Banalitäten mit einem Fremden aus. Es würde jetzt dann bald losgehen mit der Performance. Wer ist nun der Zuschauer? Wir, oder ihr Chatpartner? Das Blatt wendet sich. Die Kommentare belustigen. Mit Mikrophon, Webcam und Tastatur ist man dabei und kann tun und lassen was man möchte. Der Grund ist völlig egal. Meistens aus Langeweile meint das im Publikum erwachte Mädchen. Oder aus Einsamkeit, oder aus einer Laune heraus, oder pure Verzweiflung. Einfach mal ein Fragment des eigenen Lebens teilen. Völlig unverbindlich, denn man kann den Chatroulette-Partner jederzeit wegklicken. Zurückkehren unmöglich. Wir befinden uns in einer Live-Performance im doppelten Sinne. Über mehrere Laptops, im Publikum verteilt, sind uns weitere Chatfanatiker zugeschaltet. Ist auch dies live? Man weiss es nicht. Man beginnt zu winken, es kommt nichts zurück, oder doch? Die zwei Performerinnen starten einen Dialog über Sinn und Unsinn von Online und Offline. Es könnte Streit geben. Sie suchen sich abwechselnd Gesprächspartner. Überwiegend Schwänze am chatten, moniert die eine. In der Tat, Typen aus der Türkei, Ungarn, Marokko oder Russland nutzen die Plattform. Einem Herrn aus dem Irak wird in der Aufführungshalle ein Catfight geboten. Er scheint es zu geniessen, ist aber sichtlich verwirrt. Und Next! Der Nächste folgt. Ein asoziales Verhalten oder probates Mittel für Realitätsflucht? Fragen über Fragen werden dem Zuschauer um die Ohren geworfen. Und jeder besinnt sich an seine eigene Bildschirmpräsenz und muss sich wohl oder übel eingestehen, dass zwischen ON und OFF oftmals nicht mehr unterschieden werden kann. Das Streitgespräch eskaliert, die Laptops werden zugeklappt. Klappe zu, Affe tot! Oder einfach: Next!

Was fliegt denn so spät durch Nacht und Wind? Hinter dem Vorhang erklingen Stimmen. Hörbar nervös. Haben sie anscheinend den Aufführungsbeginn verpasst? Sie müssen uns etwas präsentieren, und zwar jetzt. Auch wenn sie mit ihren Forschungsergebnissen um Monate im Verzug sind. Also los: Out of the Dark (into the Light). Wir machen die Bekanntschaft mit zwei Damen; Jana, einer Soziologin mit raffgierigem Moderationstalent und Kerstin, eine Art schrullige Honorarprofessorin für angewandte Ornithologie. Mit dabei haben sie ihr Forschungsobjekt, die Alpendohle. Gezielt werden uns ihre Rechercheergebnisse aufgeführt. Da wäre ein aufschlussreiches Interview mit dem Pilatusholzwurm. In bester SRF-Aufnahmequalität gibt der sympathische Herr mit dem selbstgedrechselten Holzhut fachmännisch Auskunft über das Vorkommen der Alpendohle (im späteren Verlauf der Aufführung auch Migrations- oder Touristendohle genannt) im Pilatusgebiet. Schlussfolgerung: Man trifft nur selten auf sie. Vielleicht hat man im Schwarzenberggebiet mehr Glück. Die neurotische Ornithologiespezialistin, die gezwungenermassen schlecht zu Menschen aber gut zu Vögeln ist, nimmt das Publikum gleich mit auf die Forschungsreise, um sich auf die Suche nach dem Vogel mit den roten Beinen, dem schwarzen Federkleid und dem gelben Schnabel zu machen. Mit Rosinen lässt er sich besonders gut anlocken. Und selbstverständlich braucht es jahrelanges Training, um sich die Technik des Alpendohlenlockrufs anzueignen, was der Ornithologin offenbar gelungen ist und was sie mit schizophrener Verrückheit teuer bezahlt hat. Jedoch weder im Lift noch in den Südpolgängen trifft man auf das Federvieh und man fängt sich langsam an zu hintersinnen, ob die Schauspielerinnen nicht selbst zu einer personifizierten Alpendohle mutiert sind. Zurück in der mittleren Halle wird der Verdacht bestätigt, picken die beiden Hitzköpfe Rahel Sternberg und Lea Whitcher nun plötzlich selbst die Rosinen auf. Definitiv ein bunter Bühnenabend mit allerlei visueller Auswüchse zum Thema Verhaltensforschung bei Mensch und Tier. Eine gehörige Portion frischer Wind in der freien Bühnenszene, wobei man kleinste Fehler auch gerne übersieht. Unterhaltsam und ohne Geiz gegenüber pointierter Witzigkeit und Unbeschwertheit präsentieren sich die drei Produktionen mit einem hohen Mass an Aktualitätsbezug. Ich wurde angenehm unterhalten. Dankeschön.

Nächste Aufführung: SA 10.05.2014 20.00 h   ZUFALLKOLLEKTIV Die Welschen ficken besser – Eine Konferenz Konzept: Nicolas Müller und Manon Krüttli Coaching: Silvie von Kaenel   JANA SCHMID & SERAINA STUCKI Stories within Chatroulette – Eine Performance, ein Erlebnis, ein Eintreten in eine Flimmerwelt und andere Weiten und Abgründe des Online-Daseins Coaching: Marcel Schwald   HITZKOPF Die Alpendohle – Ein Stadtprojekt aus ornithologischer Sicht Mit: Rahel Sternberg, Lea Whitcher (Spiel) und Timo Krstin (Regie). Lukas Sander (Bühne) Coaching: Fabienne Hadorn