«Es goht nor oms rede. Wennd mensche nor öber das wörded rede, was sie begriffed, wär’s sehr stell.» Ein Philosoph.

Gestern wurde viel (aneinander vorbei) geredet, gepoltert und monologisiert. Im grossen Speisesaal des nostalgischen Jugendstil- Hotels Pax Montana im Flüeli-Ranft kreuzten Figuren verschiedenster Prägung auf: Chnuschtige und schlaue Einheimische (Obwaldner), spirituelle, potentiell-gefährliche und skurrile Gäste, sowie emsiges Personal. Zur Uraufführung kam unter der Regie von Ursula Hildebrand, in Zusammenarbeit mit der Thatergesellschaft Sarnen, das ortspezifische Theaterstück Hert dra zuächä, das sich aus sechs verschiedenen Kurzdramen der Innerschweizer AutorInnen Dominik Brun, Romano Cuonz, Christoph Fellmann, Roland Infanger, Barbara Studer und Annette Windlin zusammensetzt.

(Von Andrea Portmann)

«Hert dra zuächä» heisst auf gut Oberwaldnerisch «nahe dran», oder wird als Ausdruck gebraucht für etwas, was ans Lebendige geht. Tatsächlich ist man nahe am Geschehen platziert, findet sich nicht in der traditionellen Guckkasten-Bühnensituation, sondern in der Nähe von zwei länglichen Tischen, wo die vielen (Lebens-)Geschichten zusammenlaufen.

Hier treffen sich beispielsweise Bootsmann Bärti von Flüe (knuschtig gespielt von Ueli Zutter) und der Kaplan Julen (überzeugend gemimt von Lukas Walpen), um über Lenin, den (vielleicht kommunistischen?) Brueder Klaus und Papst Johannes Paul den II (der übrigens 1984 tatsächlich hinauf in den Himmel, äh ins Flüeli Ranft gereist ist, um den Bruada Klaus heilig zu sprechen) zu debattieren – bis sie stockblau auf die Tische steigen und einander als Papst Johannes Paul und Lenin zuprosten. Ich sitze mit einigen waschechten Obwaldnern am Tisch (die sprachliche Verständigung funktionierte, dies sei nur am Rande erwähnt, formidabel), denen die kommunistischen Reden von Bärti sichtlich und hörbar munden. Die Szenen mit Bärti, Kaplan Julen und Dorli stammen von Romano Cuonz, dessen Kurzdrama den Namen Bruäder Lenin trägt.

Dazwischen geschichtet sind Parallelmonologe von Ihm und Ihr. Sie erholt sich im Pax Montana und besucht eine Selbsthilfegruppe, Er plant ein Bomben-Attentat. Die Beiden bemerken einander, fühlen sich zueinander hingezogen; bis sie turteln vergeht aber noch ein Weilchen. Die Er- und Sie-Geschichte stellt im ganzen Stück eine Art Solitär dar, kontrastiert stark mit den anderen, urchigen Szenen – auch sprachlich. HideandSeek heisst das Stück von Christoph Fellmann.

Hide and Seek (Imogen, 2005) wird denn auch lustvoll von zwei gut betuchten Damen und Herren, die aussehen, als wären sie direkt der Belle-Epoque-Zeit entsprungen (Bühne und Kostüm: Anna Maria Glaudemans Andreina), a-capella gesungen (Karin Arnold, René Baschung, Yvonne Flühler, Peter Hausherr). Die Gruppe bietet während des Stücks immer wieder, etwas pathetisch wirkende («Freude schöner Götterfunken»), musikalische Einlagen oder sitzt, einem üppigen ‚tableau vivant’ ähnlich, an einem der Tische. Welche Funktion diesen singenden Gästen aus vergangener Zeit genau zukommt, habe ich nicht wirklich verstanden. Erzeugen sie eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (Vergangenheit-Gegenwart) oder verkörpern sie die Harmonie, das Paradies, transzendieren gewissermassen das menschliche, allzu menschliche Gebaren der Figuren?

Gehen wir weiter zur nächsten hineingeschichteten Geschichte: Noldi (die Rolle ist dem Charakterkopf Werner Schleiss wie auf den Leib geschnitten) steht auf die deutsche Serviertochter Heike (Antje Stagneth, ihr «Hochdeutsch» ist etwas irritierend), die im Pax Monatana arbeitet, weil sie sich in die furchig-urchige Flüeli-Ranft-Landschaft verliebt hat. Noldi gerät in einen Streit mit seinem Bruder Bärti (Peter Sidler), denn er fürchtet, dass dieser ihm, obwohl verlobt, Heike ausspannt. Ein Happy End gibt’s in Noldis Alpenrosen von Dominik Brun nicht: Heike reist ab, Noldi steht mit seinen Alpenrosen alleine da – und Dorli, aus der anderen Geschichte, packt die Rosen und labt sich an ihrem Duft. Genau so werden Verknüpfungen geschaffen, zwischen den einzelnen Stücken: entweder durch Gegenstände, die Sprache oder aber das Servicepersonal. In den Fokus gerückt werden die einzelnen Figuren durch eine ausgeklügelte Lichtregie (Martin Brun). 

Ich ertappe mich gerade dabei, wie ich versuche, das Stück chronologisch, beziehungsweise entlang der einzelnen Geschichten nachzukonstruieren. Eine solche Ordnung gibt es in Hert dra zuächä nicht, da ist das Stück näher dran am Leben. Alle Geschichten, zu denen noch diejenige des ominösen Philosophenpaars Alphones und Florence du Perrot von Annette Windlin (Hoher Besuch), eine absurde Konferenz von Obwaldnern um den Mittelpunkt der Schweiz von Roland Infanger (Kampf um d’Mitti) und eine Grossmutter-Enkelin-Geschichte von Barbara Studer (Der Koffer) gehört, sind zu einem spannungsreichen und vielstimmigen Gewebe verknüpft (die Gesamtkomposition stammt von Ursula Hildebrand und Wolfram Schneider-Lastin). Darin liegt gleichzeitig auch die Schwierigkeit des Stücks: Bei so vielen (Lebens-) Geschichten fällt es einem schwer, richtig einzutauchen, so richtig «hert dra zuächä» zu sein.

Noch bis FR 29. Mai. www.theater-sarnen.ch