Eine Welt im Wandel

Bourbaki Luzern, ab 3.9.2015: «Andermatt – Global Village» heisst der sehenswerte Dokumentarfilm des Zürcher Regisseurs Leonidas Bieri. Er ist das Resultat einer sogenannten Langzeitbeobachtung. Von 2008–2014 begleitete Bieri das Geschehen im Urserental. Eine Geschichte um Samih Sawiris’ 2-Milliarden-Dollar-Vorhaben mit Verlierern und Gewinn(l)ern, die auch anderswo spielen könnte.

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So stelle er sich das Paradies vor. Thomas Regli besucht einen Kollegen droben auf der Alp und schaut aufs fürwahr paradiesische Bergpanorama. Unten im Tal ist das Paradies verloren. Regli ist selber ein Opfer der Ereignisse geworden. Sein Stall ist leer, die 11 Kühe: von dannen. Das landwirtschaftliche Pachtland ist Teil des vergrösserten Golfplatzes geworden, das hat sich für den Besitzer mehr gelohnt, als Regli darauf bauern zu lassen. Regli zieht, erstmals überhaupt in seinem Leben, für länger fort. Er braucht Abstand, will vergessen. Nach viereinhalb Monaten Australien ist er wieder zurück. Er will daheim ein neues Leben beginnen. Jetzt arbeitet er auf dem Bau für Sawiris Luxus-Resort, das mit dem Label «Andermatt – Swiss Alps» auftritt. Aber etwas fehlt. Um eine Aufgabe zu haben, hat Regli sich zwei Esel gekauft. Die Zukunft sieht er eher im Tourismus, «Reiseführer oder so etwas in diesem Bereich». Das Restaurant Adler im Dorf gehört seiner Mutter, welche die Beiz nicht mehr führen kann. Seit 2011 steht der «Adler» leer. Thomas Isler will die Beiz wieder eröffnen. Um auch zu bemerken: «Es ist eine gähnende Leere im Dorf. Der Aufschwung ist noch weit weg. Es ist extrem, wie sich alles verändert hat.»

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Der Pensionierte Peter Indergand analysiert die Lage düster, als eine Art Dorfphilosoph. Das traditionelle Familiengeschäft mit den Kristallen kann er vergessen – «einisch isch es guet gsi». Er konstatiert das Absterben der Region, einen regelrechten Kollaps, spätestens als das Militär aus Andermatt fortzog und die grosse Strukturkrise im Bergdorf Einzug hielt. Auch der Tourismus liegt tendenziell am Boden. Aber da: «wien e Liechtstrahl vom Himmel openappe» kam Herr Sawiris geflogen mit seinen hochfliegenden Plänen und einer Investionssumme von rund zwei Milliarden (Dollar). Nüchtern konstatiert Indergand Jahre später eine «Diskrepanz zwischen jenen, die es vermögen, und jenen, die arbeiten sollen».

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Die beiden jungen Einheimischen Maggie Gnos und Joel Regli wollen die Chance nutzen und etwas Eigenes auf die Beine stellen. Dass Sawiris hier investieren kommt, das ist für Maggie «ein Riesenglückstreffer für Andermatt». Ihr erstes eigenes Ding: Ein alter Bauwagen wird aufgepimpt und dient als Bar oben an der Piste. Im Dorf übernehmen sie ein bestehendes Lokal. Und für ein ehemaliges Landwirtschaftsgebäude am Berg haben sie ebenfalls Gastro-Pläne. Schliesslich noch eine Bar, die sie im Dorf betreiben – als Pächter von Besitzer Sawiris, der die Pinte «del Prato» gepostet hat. Columban Russi, aus alteingesessener Andermatter Familie, hütet heute Geissen über Andermatt. Am Stammtisch hört man ihn solches sagen: «Der Kanton hat Sawiris die Grundstückgewinnsteuer für 10 Jahre gestrichen, wir aber zahlen – das ist doch nicht fair.» Er sagt auch: «Heimat ist nicht nur die Landschaft, Heimat ist auch die Bevölkerung. Wir waren schon vorher da. Also müssen wir auch Herr und Meister bleiben im Tal.» Einer am Tisch: «Ich chönnt verreise.»

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Der ausführende Architekt Max Germann führt eben aus, was sie in Kuala Lumpur geplant haben. Die Sales Agents promoten Andermatt in Lugano, die Immobilienmakler besprechen sich in Berlin, schauen vor Ort, Robert Fellermeier, Resort-Betriebsleiter, preist die Anlage, der schwedische Ski-Investor räsoniert über den Ausbau der Skiarena, die eine der grössten in der Schweiz werden soll. Andermatt ist eine gewaltige Baustelle. Da wird schon mal ein Wald gefällt, just während der Brutzeit, wo dann die Vögel in den abgeholzten Baumbeigen verzweifelt nach ihren Jungen suchen. Aber da wäre noch die Welt draussen in der Krise mit Auswirkungen auf das Alpine: arabischer Frühling, Finanzkrise, Zweitwohnungsinitiative, Euroschock. Globale Ereignisse mit Folgen für Andermatt, das laut Investoren ein zweites St. Moritz werden soll. Sie halten den nackten Gewinn-Gedanken hoch. Wer zahlt den Preis für die Zukunft von Andermatt? «Andermatt – Global Village» ist ein eindringliches Lehrstück, ein anschauliches Fallbeispiel über die Verführbarkeit, über Hoffnungen und Enttäuschungen, über Verlust von Heimat und über die Macht des Geldes. Ganz konkret in Andermatt, vorstellbar auch anderswo. Was hätte wohl ein Friedrich Dürrenmatt aus dem Fall Andermatt für ein Stück gemacht?! Apropos Dürrenmatt: Der Film «Dürrenmatt – eine Liebesgeschichte» über den wohl grössten Schweizer Schriftsteller kommt im Fall am 15. Oktober ins Kino.

«Andermatt – Global Village»; Regie: Leonidas Bieri; CH 2015, 90', Kino Bourbaki Luzern