Ein getanztes Fest mit Suchtpotenzial

Südpol, Mittwoch 21. November 2012. Mit «Fest», dem letzten Teil der Nostalgia-Trilogie von Irina Lorez & Co, ist den Choreografen und Tänzern ein atemraubendes und theatrales Tanzspektakel gelungen, das den Zuschauer am gestrigen Abend mit einer geballten Ladung von energetisch geladenen Körpern konfrontierte und damit menschliche Beziehungen und deren ambivalentes Verhältnis zueinander darstellte.

(Von Tiziana Bonetti)

Am Anfang standen vier regungslose Gestalten, die an Statuen erinnerten, auf dem schwarzen Bühnenboden, bis die stark rhythmisierte elektronische Live-Musik von Domenico Ferrari das Freeze augenblicklich auflöste. Wie auf Knopfdruck begannen sich die Gestalten akrobatisch zu bewegen und nahmen mit ihren gespannten Körpern schwungvoll tanzend den ganzen Raum in Anspruch. Im ersten Moment schien der ausgeflippte Tanz eher etwas desorganisiert, will sagen improvisiert: Doch alsbald wurde man gewahr, dass jede einzelne noch so geringe Bewegung beabsichtigt und für die Choreografie bedeutungsvoll war. Einfache Elemente flossen über zu komplizierten Bewegungen und Sprüngen. Die Körper der Tänzer glichen elektrisch geladenen Molekülen: Synchron bewegten sie sich im Tanz kreuz und quer, manchmal disparat, dann wieder gemeinsam. Somit erlangte die Anziehungs- und Abstossungskraft ein allübergreifendes, dominierendes Moment, das die eineinhalbstündige Choreografie wie ein nahtloses Konzept programmatisch umfasste. Erfahrbar wurde der bewegliche und bewegte Körper der Tänzer für den Zuschauer in vielerlei Hinsicht: Schien der Tanz am Anfang nur dem Selbstzweck dienlich, formte er sich plötzlich zu einem zeichenhaften Kommunikationsmittel, womit menschliche Beziehungen durch Bewegungen dargestellt wurden. Der gelenkige Körper wurde so zu einem bedeutungsproduzierenden Instrument, mit dem die Tänzer untereinander interagierten, aber auf diese Weise auch den Zuschauern symbolhaft Botschaften zu vermitteln wussten. Der Körper der Tänzer veränderte sich zu einem transzendenten Ort der Erfahrungen: Das gegenseitige, leibliche In-Kontakt-Treten der aktiven Darsteller berührte und erweckte die Lust, mitzumachen und den anatomischen Menschenkörper mit eigenen Händen und Füssen kindlich-naiv zu erforschen. Kein Wunder wurde das Sitzen auf dem Stuhl hin und wieder zur Qual, wenn man sich als quasi-passiver Zuschauer seiner eingeengten Position gewahr wurde und im Grunde viel lieber am energetischen Treiben unten auf der Bühne teilgehabt hätte. Indem die menschlichen Gefühle tänzerisch verarbeitet wurden, erfuhren sie eine lebendige Dynamik, ja wurden geradezu zum Leben erweckt, anstatt dass sie an Tod und Melancholie erinnerten. Durch Tanz versuchte man sich dem anderen anzunähern, manchmal wurden auch Requisiten zu Hilfe gezogen: Zum Beispiel versuchte das zierliche Muskelpaket Irina Lorez die widerwillige, um sich schlagende Elena Morena unter ihren dehnbaren Rock zu zerren, woraus sich eine energische Choreografie zwischen den Beiden entspann – ein ohne Worte ausgetragener Konflikt, kurz: ein Kampfgefecht. Gesprochen und gesungen wurde nur am Rande. In einer Szene aber rückte die Sprache deutlich in den Fokus: Nämlich als Joshua Monten das Mikrofon ergriff, um dem Tänzer Tonatiuh Diaz Anleitungen zu geben, was er mimisch darstellen sollte. Damit wurde das Verhältnis zwischen Sprache und Körper umgedreht: Nicht mehr der Körper brachte tanzend Erfahrungen zur Sprache, sondern die Sprache strukturierte bereits die Erfahrungen und Bilder, die er produzierte. Anders formuliert: Die Identität des Körpers entstand durch die Aufforderungen «Be a Dog» oder «Be the one you are in love with». Das zelebrierte Fest von Irina Lorez & Co war zweifelsohne ein qualitativ hochkarätiges Tanzspektakel: Farbenfroh, lebendig und feierlich wurde, wie im Programmheft verheissungsvoll steht, «das scheinbare Ende unseres Lebens» getanzt. «Fest» erinnerte aber keineswegs an Abschied, sondern vielmehr an Geburt und Entstehung oder sogar Auferstehung?