Dokufiktion

Kunstmuseum Luzern, 24.4.2015: In der Ausstellungstrilogie «Milena, Milena» stellt das Kunstmuseum Luzern seit Ende Februar dieses Jahres Arbeiten der amerikanischen Künstlerin Sharon Lockhart aus. Unprätentiöse Porträts mischen sich unter grossformatige Filminstallationen und Neuaufnahmen von Schnappschüssen aus Familienalben. Gezeigt werden Arbeiten von Lockhart, die zwischen Dokumentation und Fiktion oszillieren. Unterschwellig klingt das Motiv der Wiederholung auf mannigfache Weise mit.

(Von Tiziana Bonetti)

Welche Haltung soll man gegenüber den Arbeiten von Sharon Lockhart einnehmen? Oder anders gefragt: Gibt es eine Annäherungsweise, die, nebst der visuellen Perzeption, Zugang zu den eigenwilligen Arbeiten der Amerikanerin verschafft? Lockharts Fotografien und Filmaufnahmen bezirzen ihre Beschauer jedenfalls nicht mit eindrücklichen Bildkompositionen oder einer überwältigenden Farbenpracht. Auch lassen sie sich thematisch nicht in einen Topf werfen oder eindeutige Querverweise, beispielsweise auf politische Themen, zu. So lässt sich fragen, ob sich nicht manch ein Besucher an Lockharts Arbeiten, die durch ihre minimalistisch gehaltene Ästhetik so etwas wie Bescheidenheit offenbaren, gestossen hat. Oder ob sich nicht manch ein anderer lauthals über die mangelhafte Bildschärfe und Überbeleuchtung der re-photgraphed snapshots (1993) aufzuregen gewusst hat, um dann mit einer «das-kann-ich-auch-» oder einer «das-kann-ich-besser-Attitüde» die Ausstellung zu verlassen.  

Von der Gratwanderung zwischen konstruiertem und authentischem Material

IMG_3157

Die von Fanni Fetzer und Adam Budak kuratierte Ausstellungstrilogie bietet ein Panoptikum der Arbeiten von Lockhart. Im ersten Raum der Ausstellung begegnen die Museumsbesucher der zweiteiligen Filminstallation Double Tide (2009), die eine Muschelsammlerin im Wattenmeer zeigt. Durch die Statik des Kamerabildes, das sachte Plätschern, das die Frau beim Eintauchen ihrer Hände ins kniehohe Meerwasser erzeugt sowie durch ihre repetitiven Bewegungen, strahlt der Film eine unerschütterliche Ruhe aus, die in Kontrast steht zur harten Arbeit des Muschelsammelns. Im nächsten Raum ist die Serie Auditions (1994) zu sehen. Es handelt sich um fünf grossformatige Fotografien, die in gleichbleibender Kameraposition jeweils eine verhaltene Kussszene zwischen einem Mädchen und einem Jungen zeigen. Die Pose der Paare variiert in den Bildern nur minimal, womit die Konstruiertheit des Sujets betont wird. Die Fotoserie erzählt keine Geschichte, sondern bringt unter anderem die verstreichende Zeit zum Ausdruck, welche durch die von Bild zu Bild abnehmenden Lichtreflexe auf dem gekachelten Boden des Treppenhauses manifest wird. Der Titel der Arbeit, Auditions, suggeriert, es handle sich um Probeaufnahmen zu einem Film oder als würde ein Casting dokumentiert. Tatsächlich aber handelt es sich um eine fotografische Re-Inszenierung, indem Lockhart auf eine Szene aus François Truffauts L`argent de poche (1976) Bezug nimmt. Gerade in Auditions zeigt sich eine der besonderen Qualitäten der Arbeitsweise von Lockhart; das mäandernde, ambigue Spiel mit Dokumentation und Fiktion. Dieses Spiel zieht sich denn auch, nebst der Modalität des Seriellen und der Motivwiederholung, fortlaufend durch die Ausstellung Milena, Milena.

Lockhart_audition-280x222

Gewissermassen könnte man diesbezüglich von einer subtilen Ambivalenz sprechen, welcher die Betrachter auch in I, Milena, Jodłówka (2013), drei Porträts eines adoleszenten Mädchens aus Polen, ausgesetzt sind. Auch in dieser Serie sind dokumentarische Züge erkennbar, die aber wiederum zu kurz greifen, um das Tryptichon dem Genre „Dokumentarfotografie“ zuzuweisen. So fragt Kuratorin Fanni Fetzer in einem anlässlich der Ausstellung verfassten Aufsatz, ob Milena in den Bildern nicht weniger Porträtierte, als vielmehr Akteurin sei, die mit unserer Neugierde spiele.   An dieser Stelle kann die Frage nachgeschoben werden, ob man nicht sogar gut daran täte an der Authentizität der Porträtierten zu zweifeln. Könnte es nämlich nicht die Künstlerin, Sharon Lockhart, selber sein, die vermittels Milena mit ihrem Publikum spielt? Analog dazu kann wieder auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht werden sich Lockharts Arbeiten zu nähern. Gerade im verschmitzt-frechen und geheimniskrämerischen Lächeln Milenas lässt sich eine Metapher für Lockharts Arbeiten erkennen, die sich ebenfalls weder auf den ersten Blick preisgeben noch eine Beurteilung darüber zulassen, ob sie als dokumentarische oder inszenierte Bilder gelesen werden wollen. Es anerbietet sich daher von einer strengen Hierarchisierung der Bilder nach ihrem Authentizitätsgehalt abzusehen. Stattdessen könnte von einer haarscharfen Gratwanderung gesprochen werden, durch welche Lockhart nicht nur die Grenzen von Fiktion und Dokumentation befragt, sondern auch jene von Genre zu Genre.   Kontinuität und langjährige Freundschaften Die 1964 in Massachusetts geborene Künstlerin Sharon Lockhart ist dafür bekannt verschiedene Genres zu hinterfragen aber auch miteinander zu kombinieren. Dadurch deckt die Künstlerin nicht nur Bezüge verschiedener Medien zueinander auf, sondern unterwirft ihre Arbeit darüber hinaus einem interdisziplinären Ansatz. In ihrem künstlerischen Schaffen untersucht Lockhart Medien und ihren Bezug zur Welt, sie interessiert sich nicht zuletzt aber auch für Orte, Menschen und ihre Lebensweisen. Auf diese Weise knüpft Lockhart Kontakte, aus denen nicht nur Fotografien und Filme hervorgehen, sondern auch freundschaftliche Beziehungen erwachsen. Solchermassen sind ihre Arbeiten von einer Kontinuität gekennzeichnet, die in der Zusammenarbeit mit Milena gipfelt. Mit Milena drehte Lockhart im Jahre 2009 den Film Podwórka, in welchem Kinder zu sehen sind, die in einem heruntergekommenen Hinterhof in Polen spielen. In den Jahren 2013 und 2014 folgten drei weitere Arbeiten in Kooperation mit Milena, die im Kunstmuseum Luzern ausgestellt sind: I, Milena, Jodłówka, Milena, Jaróslaw und Milena Dębki.

Milena Glasmalerei

In der Ausstellung Milena, Milena – man könnte sie durchaus als umfassende Werkschau der amerikanischen Künstlerin betrachten – widerspiegelt sich der Facettenreichtum der künstlerischen Arbeit Lockharts. Die in zehn Sälen untergebrachte Ausstellung ist noch bis am 21. Juni zu sehen. Es ist ratsam jeweils die Saaltexte zu den ausgestellten Werken zu lesen, da sich im Zusammenhang mit der Lektüre Gehaltvolles aus den Fotografien und Filmen ziehen lässt, das dem sehenden Auge entzogen bleiben muss.