Die Rückkehr in die Gegenwart

Kunstmuseum, Luzern, 02.11.2019: Nach dem 200-Jahre-Jubiläum der Luzerner Kunstgesellschaft wendet sich das Kunstmuseum wieder der Gegenwart zu und führt so ihre «Tradition der Avantgarde» fort. «Nella Società, in Gesellschaft» ist klug, kritisch und wirft nach Turner eine weitere, ganz neue Sicht auf Luzern.

Nach dem erfolgreichen Jubiläum und dem Blick in die Vergangenheit hält die Gegenwart wieder Einzug im Kunstmuseum Luzern. Und mit ihr der Ruf nach zeitgenössischer und politisch engagierter Kunst. Diese vermag Kuratorin Fanni Fetzer und ihr Team mit «Nella Società, in Gesellschaft» auch zu bieten. Vom farbigen Biedermeier geht es zurück in den modernen «White Cube».

Ambivalenz in der Schönheit

Giulia Piscitelli (* 1965) ist eine Konzept-Künstlerin aus Neapel, welche laut Fanni Fetzer «schöne Kunst» machen will, die sinnlich berührt, aber erst im Kontext ihre Ambivalenz offenbart.

Und tatsächlich: Man spürt die Empathie der Künstlerin mit den alltäglichen Gegenständen, das Mitgefühl für das Verworfene, Minderwertige und Nutzlose, mit dem die Künstlerin ihren Geschichten nachgeht. «Human history» kondensiert in «material culture».

Sie verleiht profanen, weggeworfenen und toten Gegenständen mit der künstlerischen Aneignung und der seriellen Bearbeitung ein neues Leben. Durch diese Wiederauferstehung werden diese Objekte sakralisiert, womit sie immer auch die Kardinalfrage stellt: Was ist Kunst? Wie wird aus Materie künstlerische Form? Und aus dem toten Gegenstand ein lebendiges Symbol?

Eine Vereinigung des Glaubens

Die Serie «Una nuvola come tappeto» (2019), die eigens für die Luzerner Ausstellung kreiert worden ist, besteht aus Gebetsbänken, die mit farbenfrohen Gebetsteppichen bespannt worden sind. Der Titel verweist auf den Psalm 105, in dem es darum geht, Gott für seine Wundertaten zu preisen und zu suchen.

Una nuvola come tappeto
«Una nuvola come tappeto» im Luzerner Kunstmuseum.

Ihr Werk vereint symbolisch drei Glaubensrichtungen und überwindet sie sogleich. Denn durch die künstlerische Konversion, der ästhetischen Umwertung der Werte des Sakralen und Profanen macht sie darauf aufmerksam, dass jeder Mensch eine Richtung, einen Sinn braucht – unabhängig jeder Religion.

Die Ähre als Kritik

Ein weiteres Werk Piscitellis heisst «Spica» (2011) und wurde erstmals an der Biennale in Venedig von 2011 ausgestellt. Es zeigt Bilder von Getreide, welche mittels Bleichmittel in lange Seidentücher, die wie Bannerflaggen an der Wand hängen, geätzt worden sind.

«Spica», lateinisch für «Ähre», wurde damals nicht nur als Naturalie getauscht, sondern auch in Getreidesilos gelagert, um Hungerkrisen und Massenaufstände zu verhindern. Wohl auch deshalb wurden Ähren später oft auf Geldmünzen geprägt.

Vorne: Una nuvola come tappeto, hinten: Spica
Vorne: «Una nuvola come tappeto», im Hintergrund: «Spica»

Seide wiederum besitzt nicht nur eine ästhetische Dimension, sondern auch eine politisch-ökonomische, welche durch die Zerstörung der schönen Textur gleichsam sichtbar gemacht wird. Denn der Handel mit Seide auf der berühmten Seidenstrasse war einer der Grundpfeiler für den Reichtum und die Macht Venedigs und seiner Kaufmannsfamilien. Und somit mitverantwortlich für den Aufstieg des Bürgertums in der Neuzeit, in der auch das moderne Bankenwesen entstand – wobei auch Getreidekammern als Banken fungierten.

Aber während das Venedig der Gegenwart vor allem für seine eigene Schönheit und die schönen Künste bekannt ist, sorgen Banken mit Getreidespekulationen für Hungerkrisen. Auch hier erweist sich Giulia Piscitelli als Meisterin der ambivalenten Konversion von abstrakter Form und konkreter Materie, Geschichte und Gegenstand.

Simulation der Wende

Clemens von Wedemeyer (* 1974) ist deutscher Filmemacher und Videokünstler aus Göttingen und verhandelt in seinen jüngeren Werken Transformationen von Macht und Ohnmacht und von Masse und Individuum. In seinen Videoinstallationen, die auch seine künstlerische Forschung wiedergeben, orientiert er sich unter anderem an Elias Canettis berühmten Werk «Masse und Macht» (1960): Durch Überlagerung der Zeiten, Überblendung der Diskurse und Überzeichnung werden Gemeinsamkeiten von Massephänomenen, aber auch die Unterschiede deutlich.

In «70’001» (2019) zeigt von Wedemeyer eine digital animierte Simulation der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig. Überlagert wird das Video von historischen Tonaufnahmen wie den Sprechchor «Wir sind das Volk!». Die Installation solle auch an Computerbildschirme oder öffentliche Displays erinnern. Der Titel referiert an die tradierte Zahl von 70’000 Teilnehmer*innen. Doch hätte seine eigene Simulation gezeigt, dass es damals mehr gewesen sein müssten. Das n+1 im Titel symbolisiert dieses Mehr.

Es kollidieren rohe Realität mit steriler Digitalität, Vergangenheit mit Gegenwart und Dokumentation mit Fiktion. Mit absichtlichen Übertreibungen entsteht ein Entfremdungseffekt, der die heutigen Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland aber auch unser generelles Verhältnis zur Geschichte reflektiert.

Und zudem unsere digitale Gegenwart: Denn die untot wirkenden «virtuellen Agenten» lösen den Effekt des «Uncanny Valley» aus. Ein unheimliches Tal also, in dem virtuelle unsichtbare Massen durch Erregungspunkte gereizt werden und in Windeseile zu einer digitalen Hetzmasse anwachsen, mit realen Folgen. Das eigentlich Unheimliche ist das Unsichtbare der algorithmisch getriebenen Dynamisierung und Automatisierung.

Fremde Heimat

Heimisch fühlen sich die Besucher*innen im Video «Faux Terrain» (2019). Denn Clemens von Wedemeyer filmte dafür an bekannten Orten in Luzern. Und sorgt damit für überraschende, aber auch abgründige Einblicke in unsere Geschichte und Gegenwart.

Wir begleiten eine sprachlose junge Frau über verschiedene Stationen, in denen sie mit flüchtenden, unsichtbaren und festlichen Massen konfrontiert wird. Dabei wirkt sie überall wie ein heimatloser Fremdkörper.

«Faux Terrain» im Kunstmuseum Luzern
«Faux Terrain» wird an der Vernissage gezeigt.

Mit dem entfremdeten Blick eines isolierten Individuums auf die einsame Masse erzeugt von Wedemeyer eine Stimmung des Unheimlichen, des Unbehagens, ja des Gespenstischen. Eine Kluft zwischen schöner Fassade und realem Grund öffnet sich.

Worauf auch der Ausdruck «Faux Terrain» verweist. Ein Begriff für eine Technik der Panoramakunst, mit welcher der leere Raum zwischen Gemälde und Standpunkt durch plastische Objekte gefüllt wird, so dass Bild und Abstand ununterscheidbar werden und die Illusion der Lückenlosigkeit entsteht.

So haben die Besucher*innen Luzern nie gesehen.

Nella Società, in Gesellschaft
Bis SO 9. Februar 2020
Kunstmuseum Luzern