Die Reise des Lamellophons

Sedel, 31.01.2014: Von Afrika in die Schweiz, vom Treibhaus in den Sedel. Von der elektronischen Singer/Songwriterin zum akustischen Trommelfeuerwerk. Und dann rauf Richtung digitale Erde.

Das Lamellophon steht auf dem Tisch. Aus Afrika ist es und dort ein traditionelles Instrument. Mbira, Kalimba, Sansula, Kisanji sind verschiedene Formen davon, zusammengefasst „Daumenklavier“. Ein paar Metallzungen auf einem Brett und fertig ist das Grundprinzip für  regenklangähnliche Geräusche. Doch das simple Gerüst soll nicht trügen. Die Mischung macht‘s. Tradition und Moderne:

Im Treibhaus Luzern nutzte Nadine Carina das Klangwerk für ihr leichtes, sphärisches Set, welches im Neo Folk-Genre pendelte. Sie loopte beispielsweise das Zupfzungenspiel und webte Synthieklänge aus dem Computer in das Geflecht. Midi-Controller-Keyboard und ein Tisch mit weiteren spannenden Geräten erzeugen spannende Klänge von einer spannenden Dame. Diese ist eigentlich aus dem Tessin, wohnt und studiert jedoch in Liverpool. Ein gelungener Coup für einen angenehmen Abend. Singer-/Songwriter-Musik in interessant. Doch die Zeit eilte, der Sedel wartete. Sanft und freundlich kann das Lamellophon sein und so richtig nach Afrika klingen. Sobald aber ein Schweizer Trommler der Sonderklasse damit arbeitet, bekommt der Kontext eine völlig neue Wendung. Besonders dann, wenn dieser Trommler Julian Sartorius heisst. Fern von elektronischen Klängen: Tradition und Tradition:

Die letzten Klänge von Simon Borers Stimme und Gitarre hallten aus dem gut gefüllten Sedel-Konzertraum. Den Künstler umrandeten wie hungrige Bären vier Drumsets. Ihre Besitzer: Die Apokalyptischen Reiter der schlagzeugerischen Konventionen. Ein kurzer Abriss über jeden von ihnen: Lionel Friedli: Laut einem zwei Jahre alten Tagi-Artikel in ungefähr 14 oder 15 Bands dabei, aber so genau zähle er nicht mehr mit. Arno Troxler: Zwischen Jazzfestival Willisau-Chefposition und Schlagzeugspiel beim Pianogenie Hans Feigenwinter oder auch Guy Vincent dabei inklusive Mimik und Positur eines Berges. Julian Sartorius: Kollaborateur mit unzähligen Szenegöttern und Urheber des „Beat-Diary“. Pez Zumthor: Unterwegs nach Afrika in Begleitung von Lucas Niggli im dokumentarischen Roadmovie „Beat Bag Bohemia“. Jeder Musiker ein Meister seines Fachs, die das Rhythmus-Blut wallen lassen. Innovation pur. Schön, hat Sartorius nach dem Dimlite-Konzert vergangenen Jahres wieder mit einer spannenden Zusammenarbeit den Weg Richtung Sedel gefunden. Dementsprechend hoch brandete der Applaus den soeben beschriebenen, vier unterschiedlichen Männern entgegen, die den kollaborierenden Star des Abends rahmten: Conrad Lambert aus England, besser bekannt als Merz. Kritikerliebling und Glastonbury-Festival-Hit, welcher dem Hype jedoch entkommen wollte und verschwand. Plötzlich wieder auf Grönemeyers Label Grönland mit neuer Platte auftauchte, inklusive Liebesbekundungen von Coldplay. Dazwischen die Musikwelt bereiste, vom Jazzfestival Montreux bis zum SXSW. Und irgendwann – der Liebe wegen – in Bern ankam, wo seine Frau als Journalistin tätig ist. Dort kreuzten sich seine Wege mit denen des Beat-Produzenten Julian Sartorius, der auf Merz‘ neustem Album „No Compass Will Find Home“ die Schlagzeugspuren einspielte. Sowie anschliessend erneut Hand anlegte und das Album durch allerlei Perkussionswerken, fern jeglicher Elektronik, neu interpretierte. Die Gesangsstimme erhält die Rolle des Kompasses in einem donnernden, regenartigen Rhythmusmantra. Imposant wirkt das auf Platte. Noch imposanter dann live. Der Opener „The Hunting Owl“ beispielsweise: Eine Macht. Ein Mäander an statisch-pulsierenden Trommeln. Mittendrin der singende Merz mit Schwirrholz in Trance. Wow. Was für ein Glücksfall, dass Sartorius‘ verschwundener Koffer damals im einem Zug mitsamt all seinen Perkussionsinstrumenten ohne ein fehlendes Stück wieder aufgetaucht ist: Klangschalen, Kuhglocken, Klangstäbe und und und platzierte der Musiker um sich. Ein spannendes Sammelsurium an Geräuschen zwischen schwer schnaufenden, lauten, aber auch leiseren, meditativen Momenten. Zugegeben: Leichte Kost war die Show nicht. Das machte sich im teilweise schwatzenden, unkonzentrierten  Publikum bemerkbar. Traurige Ironie des Schicksals: Je geringer der Pegel auf der Bühne, desto lauter wurde geredet. Die entfesselten Musiker liessen sich davon trotzdem nicht beirren und feuerten zum Schluss noch einmal ein krachendes Gewitter an Energie ab, welches alle Emotionen freisetzte sowie Spannungen löste. Grossartig. Inmitten dieser unter Strom stehenden Collagen nahm das Lamellophon in Form einer Mbira schon fast gefährliche, hinterhältige Züge an. Als ob man in einer dunklen Wüste am Lagerfeuer sitzt, mit der stetigen Gefahr des Angreifers aus dem Schatten. Ein Stück Afrika in der Schweiz und ein Stück Treibhaus im Sedel: Interessanter Zufall. Doch an jenem Punkt endete dieses Stück Akustikgewitter und die Reise. Wir sind in der digitalen Zukunft angekommen. Moderne und Moderne:

Mit dem letzten Slot an jenem Abend setzten GAiA den Pfeiler für ein interessantes Digital-Spektakel-Jahr, das ziemlich sicher in ihrem Zeichen stehen wird und unbedingt verfolgt werden sollte. Immerhin scheint diese Formation auf dem Weg Richtung Spitze eines interessanten Genres zu sein: Elektronische Musik mit akustischen Elementen; Akustik-Techno?! Unzählige Synthesizer – Prophet, Korg MS2000, Roland Gaia, Novation und so weiter, und so fort – setzen Massstäbe. Wäre dieser Gearporn ein Film, er würde wohl den Avantgarde-Oscar gewinnen. Für das vollendete Tanzglück sorgen zudem Schlagzeuger und Perkussionist. Die genauere Analyse wird zu einem späteren Zeitpunkt (der kommen wird, soviel sei versprochen) interessanter sein. An jenem Abend war der Sound extrem laut (sogar auf dem WC vibrierten die Deckel) und das vorherige Konzert wirkte nach wie vor tief. Klar: Wer zum Bewegen blieb, wird dies nicht bereut haben. Aber zukünftige Shows werden weitaus mehr Raum zum Analysieren und Nerden mit sich bringen. Die Reise des Lamellophons: Natürlich, der Bogen funktioniert nicht vollumfänglich. Wenn jedoch  die beschriebenen Musiker den Raum zum Experimentieren nutzen, so soll das hier ebenfalls ausprobiert werden. In diesem Sinne auf ein spannendes Jahr.