Die Nacht der Chimäre

Industriestrasse, Luzern, 25.11.2017: In der Industrie wird ein Monster mit drei Köpfen auf das Publikum losgelassen, das zuerst gnadenlos niederprügelt, dann liebevoll umarmt, und einen zum Schluss völlig verwirrt irgendwo abseits der Wege stehen lässt.

 

Langsam aber sicher schleichen sich die Gäste in den Keller der Industriestrasse 9. Wie ein stetiger Tropfen füllen sie zuerst die Bar, und dann auch den Konzertraum, in praktisch greifbarer freudiger Erwartung auf die heutigen drei Konzerte, die den Abschluss des Jubiläumsmonats von Boa im Exil bilden werden. Ob sie wissen, was auf sie zukommt?

 

Als erstes reisst die Willisauer Band Film 2 (sprich: Film Zwei) die Bühne an sich. Es fühlt sich wie ein hinterlistiger Schlag aufs Ohr an. Im allerbesten Sinne. Elias Bieri (b), Jonas Albrecht (d) und Elischa Heller (voc, g) sind gnadenlos. Sie beginnen ihr Konzert wuchtig, und halten den Druck für den Rest ihres Sets aufrecht. Die Gitarren dröhnen und kreischen, das Schlagzeug pusht, die Stimme überschlägt sich, wird von ihrem eigenen Widerhall beinahe bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Psychedelisch, treibend, windend, manisch, wunderbar.

 

Nach diesem kraftvollen und -raubenden Auftakt übernehmen Febueder (sprich: Fe-Biu-der) das Zepter. Die beiden Briten Kieran Godfrey (voc, g, trumpet) und Samuel Keysell (d) spielen groovigen Indie-Alternativ-Rock und sind an diesem Abend die tanzbarste Band. Das Publikum im Konzertraum wippt und schaukelt mit den Songs mit. Eine ungeahnte Ruhe vor dem Sturm. Godfreys Stimme hallt mit einem Low-Fi-Effekt bluesig durch den Raum, und Keysell spielt seine Drums unkonventionell, irgendwie animalisch. Man könnte sagen, er haut affig auf das Instrument, aber bleibt dennoch präzise wie eine Raubkatze.

xiuxiu

 

Und mit Katzengeräuschen kündigt sich auch die Hauptattraktion des Abends an. Xiu Xiu (sprich: Schu Schu) heisst die experimentelle Band, die 2002 in Kalifornien um den Sänger Jamie Stewart (voc, g) herum gegründet worden ist. Dieser ist seither auch das einzige konstante Mitglied. Und eben dieser Jamie Stewart steht nun auf der Bühne. Etwas genervt macht er laut miauend den Soundcheck, und ist dabei völlig unzufrieden mit der Lautstärke seiner Stimme. Als er auch nach wiederholtem Miau-Miau, und wiederholtem Bitten nach Aufdrehen der Boxen noch immer nicht zufrieden ist, beendet er den Soundcheck etwas resigniert. Es beginne, ihm egal zu werden, meint er noch und legt los.

Aber seine Performance sagt etwas ganz anderes aus. Zusammen mit Angela Seo (percussion) liefert er ein Konzert, an dem man sich nie sicher fühlen kann. Die Musik ist unvorhersehbar, wechselt abrupt. Kaum lässt man sich von einem kraftvollen Gitarrenriff einlullen, bricht Stewart das Ganze wieder auf. Mal verfällt er in einen Sprechgesang, dann heult er, schreit, oder murmelt vor sich hin. Er ist sprunghaft, stolziert auf der Bühne hin und her, gestikuliert im Affekt, und strahlt dadurch eine sehr glaubhafte Intensität aus.

 

Es scheint fast so, als ob Teile des Publikums nicht genau wissen, was sie mit diesem Auftritt anstellen sollen. Der Konzertraum scheint etwas leerer als wie noch zuvor, und bei den stilleren Songs hört man wie überraschend viel im Publikum gesprochen wird. Es ist schwierige Musik, die man auf sich wirken lassen muss.

 

Nach dem Konzert drängen sich viele wieder raus an die frische Luft, und stehen etwas ratlos im Freien. Nicht ganz sicher, was man gerade erlebt hat. Nicht ganz sicher, ob man jetzt am besten nach Hause, ins Krankenhaus, direkt in die Irrenanstalt, oder vielleicht doch einfach weiter durch die Nacht ziehen soll.