Die Nacht, da der Pudding brennt

Luzerner Theater, 03.09.2014: Im Rahmen des Lucerne Festival zeigt das Luzerner Theater die Welt-Uraufführung der Kurzoper «Die Antilope» von Johannes Maria Staud. Das Stück ist ein süffiger Knaller, der der Oper alles gibt, was Oper kann und soll, und die Produktion, die später noch nach Köln wechselt, macht sehr vieles sehr gut. Die bange Frage aller Fragen im Zusammenhang mit zeitgenössischer Oper stellt sich für einmal nicht: Wieso muss das sein? Wer hineingeht, wird wissen, dass er das Richtige getan hat.

Dass jemand bei einer Firmenfeier aus dem Fenster zu springen das Bedürfnis hat, ist ja ausgesprochen nachvollziehbar. Es geschieht indessen selten, dass der Springer anschliessend nicht als Matsch auf dem Asphalt liegenbleibt, sondern in eine «zeitenthobene Existenz» gerät, in welcher ihm Texte des gerade angesagtesten deutschsprachigen Lyrikers «neue Sichtweisen» «gewähren». Solcherlei Erlesenes aber wiederfährt «Victor, einem jungen Mann am Anfang einer beruflichen Karriere», und so hat denn die Oper «Die Antilope» von Johannes Maria Staud, basierend auf einem Text von Durs Grünbein, einen Anlass, um sich im Anschluss an den Fenstersturz noch in sechs «Tableaus» und einer Reprise weiter auszubreiten. Eine flirrende, sirrende, gläserklirrende «Tonbandmusik» leitet in das Geschehen ein, bevor das Orchester den Faden mit hochemotionalen, dramatischen Klängen aufnimmt, die ihre Originalität und Kraft in sich selber tragen und doch nicht zwanghaft unbekannt oder hysterisch unangenehm tönen. Die Musik von Johannes Maria Staud ist das Gegenteil der humorlosen und faschistoid gestrengen Avantgarde, wie sie unter Verdammung alles Lockeren, Historisierenden oder gar gut Klingenden noch vor 20 Jahren vorab das deutsche Musikleben beherrschte. Einst gab es als Gegenbewegung und Gegenbegriff die sogenannte «Postmoderne», und mittlerweile ist der Komponist der Jetztzeit offensichtlich einfach frei geworden; frei in der Verfügungsgewalt über alle möglichen Stile, Zeiten und Gattungen. Diese «musica impura», welche den stilreinen Avantgardisten ins verkniffene Gesicht grinst, erweist sich aber schlussendlich als eng verwandt gerade mit den grössten Werken der letzten hundert Jahre Operngeschichte, mit dem «Wozzeck», der «Lulu», dem Stil-Mimikry von Richard Strauss. Sehr österreichisch ist das. Der Österreicher Staud hat bezeichnenderweise aber auch bei den beiden klangverliebten Schweizer Komponisten Michael Jarrell und Hanspeter Kyburz gelernt, und er beherrscht den Stilmix von gesampelten Klängen über die expressive Attacke, die lyrische Geste, den romantischen Überschwang bis zu Tanz und Tango perfekt. Süffig, wie Opernmusik halt immer wieder auch sein darf, kommt diese Partitur daher. Sensationelle Ensembleleistung Nicht zum ersten Mal übertrifft sich das Luzerner Sinfonieorchester selber bei der Interpretation von zeitgenössischer Musik. Dirigent Howard Arman hat eine im Detail äusserst präzise und hoch sinnliche Darbietung erarbeitet, wo sich voluminöse Streicher- und Blechklänge auftürmen ohne die Sänger zuzudecken, wo feine Übergänge zu den leisen Klängen einer gesampelten musique concrète gelingen, wo Atmosphäre spürbar wird, unheimliche, überhempelt lustige, zart innerliche. Brillant auch der von Mark Daver einstudierte Chor. Die meisten der Sängerinnen und Sänger agieren im Verlaufe des Stückes in verschiedenen kurzen Rollen, und das Erfreuliche ist, dass bei dieser Produktion auf Festwochenniveau fast alle Stellen mit Mitgliedern des eigenen Ensembles besetzt werden konnten. Genannt seien stellvertretend Szymon Chojnacki als präpotenter und stimmlich phänomenal wandelbarer Chef und intriganter Oberkellner, Carla Maffioletti, die sich als «Skulptur» in virtuosen Koloraturen ergeht und dabei ihren Kopf genau dort aus der Kulisse steckt, wo in der Skulptur, die sie darstellt, praktischerweise ein rundes Loch ausgespart wurde, oder Todd Boyce als sehr menschlicher, glaubwürdiger und mit seiner Sprachlosigkeit ringender Victor. Kompakter, expressiver Text Sprachlosigkeit ist das Thema des Stückes und damit des Librettos von Durs Grünbein, einem Lyriker, der sich in den letzten Jahrzehnten mit kompakten Gedichten ebenso einen Namen gemacht hat wie mit der Neigung, sich zu jedem gerade von Zeitgeist und Journaille vorgekäuten Thema lyrisch oder essayistisch zu Wort zu melden. Das Zeitgeistige wäre im vorliegenden Fall die Kritik an der geistig hohlen Welt der globalisierten Wirtschaft. Das Gelungene sind ebenso präzise wie assoziationsreiche Sätze wie etwa:   «Das ist die Nacht, da der Pudding brennt.» oder: «Schön ist die zwanzigste Stunde. Sie setzt an den Schläfen ein, wenn die Welle sich bricht. Wenn in den Abend gleiten urbane Schwärme.»   Victor, die Hauptfigur, beherrscht die phrasenhohle Sprache des modernen Managements, die Worthülsen der «Human-Resource-Managerinnen», die Idiotien der Stelleninserate, den hochstaplerischen Smalltalk der Betriebsfeiern (und Theaterpremieren) und den Slang der beförderungsgeilen Businessratten nicht. Er ist der Aussenseiter, der schliesslich weggemobbt wird, weil er einfach nicht «locker» sein will. Victor drückt sich in einer Kunstsprache aus, aus welcher man manchmal ansatzweise etwas zu verstehen meint, nicht semantisch eindeutig, lediglich assoziativ. «Antilope», der Titel der Oper, könnte aus dieser Kunstsprache stammen, besonders, wenn man die ersten zwei Silben in ihrer isolierten Bedeutung versteht und das gesamte Wort auf diese Art in eine verschwimmende Bedeutungsebene hinein liest. Es wird eine Skulptur in einem Stadtpark sein, die Victor in seiner Sprache, auf «Antilopisch», antwortet. Die Kunst spricht das Echte, schwer Verständliche, aus. Schön. Und ein bisschen plakativ, gut gemeint und simpel belehrend. Alle anderen Figuren des Stücks reden pausenlos aneinander vorbei oder dreschen ganz für sich allein Phrasen. Das vordergründig Verständliche ist der Unsinn, das scheinbar Unverständliche trägt die Substanz. Damit zeigt diese «Antilope» auch eine inhaltliche Verwandtschaft zum Berg-Büchnerschen «Wozzeck», dem Drama des sprachlosen Mörders, aus dem bei Staud-Grünbein offenbar ein Selbstmörder geworden ist. Hausherrliche Meisterhand Hausherr Dominique Mentha inszeniert das Stück mit gelassener Meisterhand und ohne verblasene Ansprüche an Professionalität des Handwerks oder intellektuelle Durchdringung des Stoffes. Er holt auch den unvorbereitetsten seiner Zuschauer auf Augenhöhe ab und gibt sich kompromisslos in seinem eisernen Willen zur Redundanz. Die Regie trägt zur Versteifung flüssiger Dialogszenen und zur Vereindeutigung mehrschichtiger Aktionen alles bei, was in ihren grossen Kräften liegt. Mentha hat klar erkannt, dass eine Antilope ein Tier ist, und sich daher entschieden, die feierlaunige Firmenbelegschaft insgesamt in ein Bestiarium mit Tiermasken zu verwandeln. So gelingt es ihm geschickterweise, dem Stück jede überflüssige Dämonie und Doppelbödigkeit auszutreiben und jede aufkeimende Glaubwürdigkeit der Interaktion mit einem Gag, Steptanzschrittchen oder Grimässchen wegzuputzen. Als geradezu genial muss man etwa des Regisseurs Verdichtungskraft bezeichnen in der Szene, wo ein Passant nach dem nächsten Bordell fragt. Mentha, wohl wissend, dass ein Zuhältertyp nicht auf der Strasse nach einem Bordell fragt, weil ihm das Bordell ja gehört, zeigt einen Passanten, der nach einem Bordell fragt, als Zuhältertypen. Das ist gelebte Dialektik und Verdichtung im freudschen Sinne. So geht das, wenn man mitdenkt und sein Handwerk beherrscht. So geht das das ganze Stück hindurch.

Johannes Maria Staud: Die Antilope Musikalische Leitung: Howard Arman Inszenierung: Dominique Mentha Restliche Vorstellungen: 3.9. | 5.9. | 7.9. | 21.9. (13.30 Uhr) | 24.9. | 27.9. | 23.10. | 26.10.