Die Lesebühne als öffentliche Geheimgesellschaft … Eine Publikumsbesprechung

Wohl kaum ein Kleinsttheater in Luzern hat einen treffenderen Namen: Von der «Loge» aus hat man als Concierge das Helvetiagärtli fest im Blick. Nach innen gerichtet, zur Miniaturbühne, sitzt fast jeder der maximal 50 Gäste in der ersten Reihe, nah genug jedenfalls, um das Weisse im Auge der Akteure zu sehen. Und umgekehrt. Heute also einmal ein Blick in den Saal … 

Die «Loge» ist vieles, sprachlich aber zuerst einmal aus dem Französischen entlehnt und davor aus dem Germanischen und Althochdeutschen abgeleitet. Der Ursprung war loub, lauf, leaf, löv etc., also das «Laub», aus dem man einst zur Erntezeit eine «Laube» baute, um zu feiern oder zu schlafen. Und etwas anderes tut die Kaiserin Sissi ja in der Theaterloge meist auch nicht, von den Blicken des anderen Adels durch Wände mehr oder weniger geschützt, in kuscheligen Balkonnischen hoch über das bürgerliche Parkett erhoben. Wenn man nicht gerade am Tuscheln, Fummeln oder Regieren ist, kann man herausschauen, weit in die Bühnenwelt hinein. Auch in den anderen Bedeutungen der «Loge» lässt es sich gut munkeln, in der Geheimgesellschaft, der Künstlervereinigung oder dem Pförtnerzimmerchen. Oder eben in unserem geliebten Literaturlokal am Helvetiagärtchen, das ich einmal im Monat obligatorisch besuche, um bei der mittlerweile siebten Staffel der ersten Luzerner Lesebühne «The Beauties and das Biest» den Lückenplauderer und Störkoch zu geben. Das Kulturteil berichtete früher gelegentlich, aber schon lange nicht mehr, und da auch die bis zum Sommer noch kommenden aufregenden Spezialgäste (Severin Perrig, Val Koloszar aka Pink Spider, Christine Weber, Benedikt von Peter) dies möglicherweise nicht ändern werden, erlaube ich mir heute einmal eine Betrachtung jener Gäste, ohne die das alles nichts wäre. Bühne frei für das Publikum!

Die literarische Raumstation

Der Weg zur Arbeit – auf dem eiernden Rollkarren ein Kistenturm voller Töpfe, Teller, Utensilien und der tagsüber vorgegarten Pausenverköstigung, die sich während der ersten Programmhälfte auf der Bühnenkochplatte leise blubbernd vollenden wird – verlief auch dieses Mal mit einigen Stunts und gewohnter Spannung. Die Lokale im Quartier gähnten nahezu vereinsamt; die Bise hält die Menschen im Dschungelcamp oder am Kamin, bestenfalls bei einem guten Buch. Warum sollen sie sich ausgerechnet am eisigen Dienstagabend mit Flüchtigem zuplappern lassen? Die meisten von ihnen meiden Lesungen regelmässig, haben vor Jahren bereits über hundert «Barfood Poetry»-Abende im legendären La Fourmi verpasst und kennen weder das woerdz Festival noch eines der ersten 32 Luzerner Literaturfeste. Sie werden auch den Buchmarkt in der Kornschütte am 10. bis 12. März, die wohl stimmungsvollste Kleinstbuchmesse der Schweiz, aufs Neue nicht besuchen. Wer von ihnen sollte sich also heute auf die schillernde, dampfende, vielsprechende Welt der Loge besinnen? Kaum rollt mein schwappendes Gefährt am Ziel vor, werde ich jedoch Lügen gestraft: Die Bude ist optisch bereits gut gefüllt und die Bar rotiert; man trinkt und plaudert, und am Harmonium namens Ernest sitzt Herr Rolla und übt noch schnell sein langes neues Lied, das er mir – wie seit fast 40 Folgen gewohnt – besorgt als wirklich langweiligen, endlosen und unkürzbaren Stimmungskiller vorhersagt. Während ich die Miniaturküche aufbaue, fragen die ersten Besucherinnen, was es heute zu essen geben wird. Die moussierende Stimmung enthüllt sich durch einen Apéro als Klassenfahrt des Vereins Luzern60plus, der engagierten Internetplattform für eine ressourcenorientierte Alterspolitik, zu verdanken der «Kostprobe» des Fuka-Fonds, der damit reihum kleine Veranstalter zusätzlich fördert und zugleich neuen Zuschauern einen Besuch ungewohnter Orte ermöglicht. How ever: Auch für die Lesebühne eine runde Sache! Zur gewohnten Zeit kommt nun auch noch eine sehr freundliche, reichhaltige Schar aus dem Loge-Stammpublikum hinzu, gewohnt gut gelaunt die Minuten vor der Show zum Leben nutzend. Normalerweise haben wir im Januar eine verständliche Besuchersenke, doch heute dampft und brummt das Lokal. Man sortiert sich auf die Sitze, von der ersten Reihe, in der die Knie bereits das Harmonium berühren, bis zur Ersatzbank vor dem angemessen beschlagenen Schaufenster.

Wasserdampf und Logenmampf

Während sich noch die letzten Gäste häuslich einrichten, fangen Rolla und ich schon mal an, verteilen Töne in den Reihen, üben Dreiklänge und improvisieren eine Version des «lieben Augustin», dessen Spezialtext seit Staffelbeginn immer noch nicht fertig wurde, was sich allerdings als brauchbar herausgestellt hat. Versierte Chorsänger scheinen anwesend zu sein; wir fühlen uns wie Animateure im TV-Studio beim Aufheizen des Auditoriums, doch schon ist das Lied vorbei, der Vorhang fliegt auf und gibt die literarischen Akteure frei. Die Startmoderation diesmal ohne Script und doppelten Boden, strauchelnd und schlingernd, doch wohlgewollt. Der Saal ist bei uns, wirft Zwischenbemerkungen nach vorne und scheint besser zu wissen als ich selbst, was jetzt zu sagen sei. Das Motto des Abends, ein Romantitel von Stefan Andres: «Wir sind Utopia»; Erläuterungsversuche sind heute mal überflüssig, man versteht es auch so. Oder nicht. Logenmeister und Hausdichter André Schürmann legt los und gefällt auf Anhieb; Zeilenreihungen im Rhythmus des Tages, so schnell geschrieben wie gehört, nichts für die Ewigkeit, aber den Moment erheblich erweiternd. Danach, zackbumm, die famose Patti Basler, gerade noch rechtzeitig von einem anderen Auftritt angereist. Auch sie stemmt sich erfolgreich gegen das Abendmotto, dessen Ausdeutung sich schnell als utopisch erweist. Dann kommt der heutige Spezialgast zum Zug, die Schauspielerin und Käserin Madlen Arnold, von der sich das Publikum im Sturm vereinnahmen lässt; sie ist aber auch wirklich bezaubernd, und da ich selbst während der Beiträge in der ersten Reihe sitze und eben zuschaue, müsste ich nun eigentlich eine spontane Verknalltheit in ihre unmittelbare Art beichten, auch durch ihre herrlich frische Performance genährt, in der sie eben gar nicht vorliest, sondern mit dem Heft in der Hand davon erzählt, was sie eigentlich geschrieben hat. Nun noch Christov Rolla mit dem ersten Teil seines viel zu langen, langweiligen Liedes, was das Publikum wie erwartet und gewohnt völlig anders sieht. Zwischendurch geht das Gästebuch durch die Reihen und wird aussergewöhnlich dicht und übermütig vollgekritzelt, als wäre es das Lagerbuch einer Pfadifreizeit. Die Pause wie immer; lautes Geplauder kreuz und quer, vor der Bühne steht eine lange Schlange zum Essenfassen, es gibt indische Tari Aloo mit optionalen Minischnitzeln und Mango-Erdnussjoghurt; wer hat, setzt sich irgendwo nieder und die Loge wird vollends zum Partyraum einer Studentenkommune. Solche bleiben der Loge allerdings traditionell fern und dank der Sondergäste ist der Altersschnitt heuer sowieso gehoben, was der Stimmung jedoch keinerlei Abbruch tut. Passanten schauen verwundert durch die Scheibe, an der das Atemwasser innen herabläuft; eigentlich könnte man dieses ja noch auffangen und wohlfeil anbieten, als Logentropfen gegen alles oder besser: für.

Die kleine Weltlaterne

Wäre dies nicht Luzern, man könnte sich glatt in einem Kiezlokal wähnen, irgendwo in Bern, Basel, Leipzig, Stuttgart vielleicht oder in einem der Dörfer, aus denen Berlin besteht. Dann wäre die Loge auch eines dieser kultigen Zweitwohnzimmer, in denen man allabendlich seine Träume verlümmelt und das Erlebte verstaut, in denen man Grossfamilien zeugt und lebende Inventare zu Grabe trägt. Ganz so funktioniert es hier nun doch nicht; nur gelegentlich streift sich die Loge ihre Heimatstadt von den Schultern und wird zur Raumkapsel auf dem Weg ins noch Herauszufindende. Ach ja, die zweite Hälfte: Das Programm läuft wie geschmiert; die Besucher sind dankbar für jede lausige Bemerkung, aber nicht übertrieben; wohltuend die Zwanglosigkeit des Humorkonsums. Kein Pflichtklatschen zu Witzstafetten, und sogar Entgleisungen und Bedenklichkeiten sind mehr als erlaubt, vor allem, wenn das Motto klemmt. Natürlich hängen wir wie immer im Plan; die Zeit rennt davon, aber die Laune bleibt. Nur Madlen muss bereits vor dem Finale davonspringen, weil kein Zug der Welt auf Worte wartet. Das Publikum wirkt hingegen, als könne es noch mehr vertragen, doch es ist Dienstag und genug. Ausserdem bleiben manche ja noch ein halbes Stündchen hängen, essen in Ruhe die Reste aus dem grossen Topf, rücken ihre Welt noch ein Stückchen Richtung Utopia und verlassen die Loge schliesslich ein klein wenig anders, als sie vorhin hereingeschliddert kamen – was man auch, aber nicht nur der Bar verdanken kann. Und was kann die frei fliessende Literatur fernab der hehren Welten des für die Ewigkeit (oder die Ramschregale) Gedrucken schon mehr wollen als das? Im Februar macht die Lesebühne eine kaum merkliche Pause; anderes findet in der Loge statt, mit jeweils verschiedenem und doch vergleichbar gut aufgestelltem Publikum. Und wenn die treue Hazel Brugger regelmässig wiederkommt, dann weicht man inzwischen halt aufs Kleintheater aus, das dafür selbst bald zu klein sein wird. Schon schön, doch die vertrauliche Stimmung der öffentlichen Geheimgesellschaft in der Loge, dieser kleinen Weltlaterne am Helvetiagärtli, die gibt es eben nur hier. Der Rezensent bedankt sich also an dieser Stelle herzlich bei den hungrigen, dankbaren, gastfreundlichen und zuweilen ausgelassen-albernen Lesebühnenbesuchern und freut sich bereits wieder aufrichtig auf sie.

Nächste Lesebühne: Dienstag, 7. März, mit dem Spezialgast Severin Perrig. www.logeluzern.com www.literaturfest.ch www.woerdz.ch