Die Box des Benedikt ist geöffnet

Luzerner Theater, 16.09.2016: Wenn da einer in der Bar steht und Dinge wie «Pionierarbeit», «neues Ensemble zusammenfügen» oder «Gesellenprüfung» in den Zuhörerkreis wirft, dann verdichtet sich im Raum Aufbruchstimmung. Neue Räume und damit Brüche in Alte, so inszeniert sich das Luzerner Theater heute Abend und macht das eigentliche Premierenstück «Ödipus Stadt» damit zur Nebensache.

(Fotos: Ingo Höhn)

Und dann doch nicht: Genauso wie der Aufführungsraum «Box», das heiss antizipierte Novum der neuen Spielzeit, unübersehen von jedem Theaterplatzpassanten, genauso steht auch «Ödipus Stadt» – das erste gespielte Stück überhaupt in der Box – in der Mitte des Abends. Den Anfang des Abends macht Hannes Oppermann, der neue Hausdramaturg. Ganz casual – auch Neuintendant Benedikt von Peter ist ein Freund der Anglizismen – macht Oppermann vor wild versammelten Interessierten eine Einführung zum Stück. Reden kann der Mann. Als wären wir auf dem «Cypher auf der Akropolis» (Max Herre), gibt er knackige Inhaltsangaben zu den vier antiken Tragödien in «Ödipus Stadt» zum Besten. Danach wird grob vorinterpretiert, nicht ohne Verlegenheit lässt Oppermann «im aristotelischen Sinne», «Hegelsche Nemesis» und «materielles Schicksal» von der Zunge gleiten. Inhalt und Interpretation auf dem Silbertablett – wozu das Stück noch schauen gehen? o%cc%82dipus-stadt-luzerner-theater-19

Vom Foyer gehts über die Strasse in die Box. Ein wohligwarmer Duft liegt in der Luft – ist es das Holz des Neubaus oder haben die hier was rumgespritzt? Vorne das Bühnenbild: neunzehn Quader in zwei Reihen höhenwegs gestellt. Auf dem Mittleren liegt einsam eine Krone. Die wird uns noch verfolgen. Dann dunkel. Dann Klappe halten. Dann wird aus der stets bedrohlichen Hintergrundmusik des Wartens die furchteinflössende Ankündigung der Familie, die sich – wir wissen es alle – in den nächsten 90 Minuten zugrunde richten wird. Wo kommt ein Ensemble her, wenn es keine Backstage gibt? Ganz dem Name des Aufführungsraums gemäss; und mehr sei nicht verraten. Von ihrem Auftauchen bis zu Ödipus’ Tod bewegen sich derselbe, Iokaste, Kreon und wie sie alle heissen ausschliesslich auf den schmalen rauwarmen Bühnenklötzen in der Höhe. Es ist klar: sie stehen von Anfang an nah am Abgrund. Sie müssen nur noch ihre Fehltritte machen und schwups. So wie der Ödipus seine eigene Identität ganz ausstellt, ist er es den Zuschauenden. Auf dem Präsentierpodest steht er frontal zum Publikum, obenohne lässt sich jede körperliche Regung vom Bauchnabel bis zur Fingerspitze nachverfolgen, keine Geste kann sich in Tüchern verbergen. Die meisten Dialoge des Stücks machen den Unweg durchs Publikum. So können sich die tragischen Figuren ja auch besser schlecht zuhören, um möglichst unverstanden zu bleiben. Nur in den ganz intensiven Interaktionen oder wo es ihre Körperlichkeit verlangt, sind sich die Spielenden zugewandt – und das macht es umso besser.

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Während der gesichtsverlorene Ödipus in seine Totenstarre sinkt, springen die anderen von ihren Blöcken in die Freiheit des breiten Grundes. Hier könnten sie was Neues aufbauen (Oppermann würde sagen: «sie befinden sich in einem utopischen Moment»). Der politisch-familiäre Umbruch wird begleitet von einem massiven Dumpfbeat. An dieser Stelle eine Warnung für schwache Ohren: es klöpft und kreischt dann und wann gewaltig. Das Schöne dabei ist, wie das Holz des Raumes im Stück mitspielt. Ebenso wie es Düfte trägt, zittert es ob jedem Verzweiflungsschrei. Eine zusätzliche Krone betritt das Parkett. Friedvoll sieht es aus, wie der jüngere dem älteren Ödipus-Sohn sie aufsetzt. Was macht der frische König? Er isst eine Melone. Das ist zum Beispiel so eine Sache, die durch eine Oppermannsche Einführung nicht erübrigt werden kann. Das muss man einfach sehen. Und hören. Und riechen! Immer wieder gibt es solche Phasen, in denen die Handlung ohne Sprache von statten geht. Manchmal fügen sie sich einfach zugänglich in die Einheit der Handlung, manchmal braucht es Phantasie, um darin Erzählung zu finden.

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Einer der gelungensten sprachlosen Momente: die Ödipus-Söhne ringen um die Stadt, ihre Körper tuns zwiespältig: fallend stützen sie sich, stehend drücken sie sich, vereinen und zerfleischen sie sich in Bruderliebe. Und bald liegen zwei weitere Leichen herum. Die lassen sich nicht so leicht wegklicken wie auf Newsportalen. Währenddessen bangt Iokaste, die Mutter der beiden, auf dem engen Horizont ihres anfänglichen Klotzes verbleibend um die Familie. Dann kommt noch die ganze Bredouille mit dem Sohn von Kreon, dem Bruder des Ödipus, ins Spiel. Um die belagerte Stadt zu retten schlitzt er sich auf Anraten des Sehers Teiresias auf. Ein Bühnenquader kippt: der Selbstopferer fällt von der Mauer und ein Bote der Iokaste mit der Tür ins Haus, um ihr das Erstere zu berichten. Verdichtung par excellence. Und wie die Iokaste (Wiebke Kayser) auf den Botenbericht reagiert, das kann man auch in keiner Foyer-Einführung mitbekommen. Hier muss man mitansehen, wie Kayser den tragischen Umschlag vom Glück ins Unglück engstmöglich vorführt und uns Schaudern lehrt.

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Während die Toten des Krieges links gewaschen werden, wird es langsam einsam auf der rechten Seite der Bühne. Allzu rasch muss man sich dort an einen jähzornigen Kreon gewöhnen, nachdem sich dieser Krone Nummer drei aufgesetzt hat. Dabei sammelte er doch noch Sympathiepunkte, als ihn der Ödipus blindlings wegschickte. Apropos Ödipus: der dreht sich quasi im Grab um bei Kreons Krönung (was auf eine Art geschieht, die einen mehr mitleidig mit dem Schauspieler als mit der Figur macht). Zwar setzt Kreon sein Insignium in einer kurzen Zweifelphase ab, doch im Streit mit seinem Sohn Haimon (Mirza Šakić) macht es ihm dann doch wieder den Kopf eng. Wenn Haimon den schönsten Satz des Abends sagt: «Sieh die Sache, nicht meine Jugend!», dann harmonisiert das perfekt mit Šakićs Spiel, und ich bedaure, dass er erst ganz am Schluss ins Geschehen trat. Die letzte Entscheidung in der Familiensaga fällt Tereisias. Kreon ist von ihr irritiert. Das Licht geht aus. Lange wird applaudiert. Ich kann während dem Applaus meine Klatschhände beiseite legen und gemütlich notieren: «Lange wird applaudiert.» Dann nehm ich sie wieder auf und klatsche weiter. Für den Schlussteil des Abends wieder Raumwechsel über die Strasse. Benedikt von Peter hält dort die eingangs erwähnte Rede zur Eroberung neuer Räume. Ein solcher ist auch der halbierte Theatersaal, wo zur Party gerufen wird. Schliesslich sollen die antiken Tragödienaufführungen ja auch den Dionysien nahegestanden haben.

Aufführungstermine & weitere Informationen zum Stück: http://www.luzernertheater.ch/oedipusstadt