Der Stier stirbt noch immer

Luzerner Theater, 26.9.2019: Eine Oper wird zum Tanz, die Bühne zur Leinwand. «Tanz 31: CARMEN.maquia» besticht mit starker Reduktion und der Geschichte einer emanzipierten Frau des 19. Jahrhunderts. Schade nur, dass sie auch heute noch für ihre Unabhängigkeit bezahlen muss.

Fotos: Gregory Batardon

Es ist eine starke Frau, die diesen Donnerstag auf der Bühne des Luzerner Theaters steht. Dort wird eine der meist aufgeführten Opern zum Tanz: «Carmen». Es ist ein mutiges Vorhaben des spanischen Choreografen Gustavo Ramírez Sansano.

Von der 1875 uraufgeführten Oper ist bei «Tanz 31: CARMEN.maquia» nur noch der Kern übrig geblieben: die Geschichte einer emanzipierten, selbstbewussten Frau, die aufgrund ihres Bedürfnisses nach Unabhängigkeit schliesslich von einem ihrer abgewiesenen Liebhabern, Don José, getötet wird. Eine Frau, die sich vergnügt? Die frech, selbstbewusst und selbständig ist? Ein Tabu in jener Zeit, in der Frauen durch eine Heirat möglichst rasch unter männliches Dach und Fach gehörten.

Carmen.Maquia im Luzerner Theater

Auch die getanzte Luzerner Carmen, verkörpert durch Aurélie Robichon, ist alles andere als ein gefaltetes Einstecktuch im Anzug des Mannes. Mit ausladenden, grossen Bewegungen tanzt sie selbstbewusst über die Theaterbühne und zieht die Blicke auf sich. Ihr Eigensinn färbt dabei immer wieder auf ihre Mittänzer*innen ab. Diese beginnen die Bewegungen von Carmen zu imitieren; obwohl letztere des Öfteren für Streit sorgt.

«Wenn Carmen heute existieren würde, würden wir sie wohl hassen», meinte Choreograph Sansano in einem Interview im «BalletMet». Doch die Carmen auf der Bühne wird vom Luzerner Publikum geliebt. Trotz oder gerade wegen ihres Eigensinns und Charakterstärke. Zum grossen Teil ist dies der Leistung der Tänzerin selbst zuzuschreiben.

Bereits im Jahr 2015 überzeugte Aurélie Robichon als Hauptdarstellerin in Sansanos Inszenierung «Tanz 19: Giselle». Im Gegensatz zum damals szenischen und vollgestellten Bühnenbild umgeht der Choreograph in der aktuellen Inszenierung die zu oft bedienten Klischees eines spanischen Dorfes. Das überraschend reduzierte, in schwarz-weiss gehaltene Bühnenbild lässt Platz für Tanz und die Musik des Luzerner Sinfonieorchesters.

Carmen und Don José

Das Bühnenbild ist dabei – wie auch der Name der Inszenierung «CARMEN.maquia» – inspiriert von Pablo Picasso. Dieser beschrieb die Figur Carmen als ein Stier, der nicht gebändigt werden kann («Tauromaquia» ist Spanisch für Stierkampfkunst). Selbst die geometrisch wirkenden Bewegungsabläufe scheinen von Picasso inspiriert.

Der Figur der Carmen werden mehrere tänzerische Kontraste gesetzt. Der wohl deutlichste Gegensatz: die zurückhaltende Micaëla (Andrea Thompson), die Ziehschwester Don Josés. Auf viel engerem Raum und mit merklich zarteren Bewegungen verkörpert sie die traditionell devote Frau des 19. Jahrhunderts und wird auch optisch als Gegensatz Carmens dargestellt.

Bühnenbild von Carmen.Maquia

Denn während Micaëla in Weiss tanzt, ist Carmen fast das ganze Stück über in ein schwarzes Kleid gehüllt. Nein, unschuldig und jungfräulich ist sie ganz und gar nicht – in der richtigen Zeitepoche geboren leider auch nicht. Für ihre Unabhängigkeit muss sie in der Oper schliesslich mit ihrem Leben bezahlen. Schade, dass auch in Sansanos Inszenierung Don José das letzte Wort behält und am Ende aus Eifersucht seine Geliebte ersticht. Vielleicht wagt sich der Choreograph in der nächsten Inszenierung noch einen Schritt weiter – womöglich mit überraschendem Plot-Twist und einer überlebenden weiblichen Hauptfigur?

Tanz 31: CARMEN.maquia
Bis SO 2. Februar 2020
Luzerner Theater

Choreographie: Gustavo Ramírez Sansano; Musikalische Leitung: Clemens Heil / William Kelley; Bühne: Luis Crespo; Kostüme: Bregje van Balen; Licht: David Hedinger-Wohnlich; Dramaturgie: Sarah Brusis.

Tänzer*innen: Zach Enquist, Elisabeth Gareis, Giovanni Insaudo, Phoebe Jewitt, Carlos Kerr Jr., Valeria Marangelli, Igli Mezini, Eduarda Pereira Santos, Flavio Quisisana, Aurélie Robichon, Sandra Salietti Aguilera, Andrea Thompson, Gonçalo Torres dos Reis, Tom van de Ven.