Der Idiot in uns

Luzerner Theater, UG, Samstag, 25.8.2012: Krzysztof Minkowski inszeniert mit «Idioten» ein Theaterstück nach dem Film von Lars von Trier – Gewagtes, Denkanstössiges und aber auch Lustiges.

(Bilder: Ingo Hoehn/Luzerner Theater)

Acht haben am Doppeltisch Platz, der frontal auf einer im Bühnenboden eingelassenen schräg abfallenden Kunstrasenfläche steht. Am Tisch, im Hauptspielraum, sitzen sie: Axel, Henrik, Jeppe, Karen, Katrine, Lars, Stoffer, Susanne. Sie stellen sich vor und man erfährt, was sie im wirklichen Leben sind. Hier spielen sie über den Sommer Idioten, im Haus des Onkels von Stoffer, der gleichzeitig eine Art Chefideologe dieser «Einrichtung» ist. Einerseits heisst ihr Plan: Die spiessbürgerliche Gesellschaft draussen mit ihrer angeblichen Normalität durch das Vorspielen des Idiotischen provozieren; andererseits geht es in diesem «politischen» Protest-Verfahren auch ums Privat-Individuelle, wenn es gilt, den Idioten in sich und somit letztlich auch «zu sich selbst» zu finden. Also spielen sie es, seltsame Laute von sich gebend, mit motorischen Tics operierend, pissend, lärmend, Tranksame herumspritzend, mit Esswaren schmeissend und Fensterscheiben einschmeissend – um wieder zu ganz ruhigen, stillen Momenten zu finden. Die Luzerner «Idioten», inszeniert von Krzysztof Minkowski («Invasion» am selben Ort 2011), folgt in vielem der filmischen Vorlage, Lars von Triers Werk von 1998. Ein Film ist ein Film und ein Schauspiel ein Schauspiel. Hier ist alles näher, direkter, unverstellter. Szenenwechsel erfolgen fliessend. Und einzelne der Darstellenden haben weitere Rollen zu übernehmen, Kellner, Werksleiter, Onkel, die Dame von der Gemeinde, zwei Hauskaufinteressenten, Katrines Vater. Und sie selber, die Rollen, fallen aus ihren Rollen, dann, wenn vom idiotischen Aktivismus in den Reflexions-Modus gewechselt wird, wenn sie eine Aktion und ihr Tun überhaupt nachbereiten. Die Inszenierung holt vieles, das Beste, aus dem knappen Spielraum heraus und arbeitet auch mit Reduktionismus und Stilisierungen.

Wer den Film kennt, trifft also auf vertraute Szenen. Eine Kenntnis des Films wird aber keineswegs vorausgesetzt. Da gibts die Restaurant-Szene, wo sie alle unschön essen und zum klassischen Berieselungs-Menuett eine Servietten-Choreo vorführen. Da besichtigten sie die Matratzenfabrik, in der man per Buzzer die Produktion stoppen kann. Man geht ins Schwimmbad in Badehosen/-anzügen und macht so Scherze wie das Ankündigen eines Tsunami «wegen Arschbombe von Katrine in Becken». Fünf von allen werden ganz nackt zu Travis’ «Why Does It Always Rain On Me?» ein Zeitlupenballett aufführen. Man singt «Stille Nacht» und versucht mit der Mitleidmasche Adventsgestecke zu verkaufen, in der Tat ziemlich abverheite Servietten-Origami-Dinger. Aus dem Film erinnert man sich vielleicht an den Besuch der richtigen geistig Behinderten, die für Irritation bei den Falschen sorgt. Zwischen Konsternation bei der Konfrontation und Aufkommen von fürsorglichen Gefühlen bewegt sich die Lage, als es auch im Stück zu einem authentischen Moment kommt: Nils (Max Scheitlin) tritt auf. Ein Bruch im Spiel, der zu denken gibt, den Rollen, uns im Publikum: Was passiert da in der Idiotenspielgruppe, was auf der Bühne? Später kann sich Stoffel zum Geburtstag ein Spiel wünschen. Er entscheidet sich für Rudelbumsen, was prompt mit viel Gestöhne praktiziert wird. Am Ende, klar, heisst es «Utopie ade», muss das Experiment scheitern. Nicht aber diese dichte Inszenierung mit ihrem intensiven Spiel, mit der Spielfreude auch, wo viel Komik ohne Denunziation des echt Idiotischen drinsteckt. Die Ambivalenz bleibt als stete Irritation. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuss. Lars fragt sich: «Worum’s eigentlich ging? Keine Ahnung.» Karen, die Bravste von allen, bekennt zum Schluss, dass das hier, mit den andern den Idioten gespielt zu haben, das beste war, was ihr im ganzen Leben je passiert ist. Wieder daheim, am Esstisch, vandalisiert sie den Zitronengugelhopf.

Idioten. Schauspiel nach dem Film von Lars von Trier. Inszenierung: Krzysztof Minkowski, Bühne und Kostüme: Konrad Schaller. Mit Marie Gesien, Hajo Tuschy, Marie Ulbricht,  Samuel Zumbühl, Jürg Wisbach, Christian Baus, Nicolas Batthyany, Juliane Lang, Max Scheitlin UG, Luzerner Theater, Vorstellungen bis 27.9., jeweils 20 Uhr.