Der Beginn von Gaffigans Abschied

KKL Luzern, 14.10.2020: Der Amerikaner James Gaffigan bekleidet seit zehn Jahren die Stelle des Chefdirigenten des Luzerner Sinfonieorchesters, nun läuft sein Vertrag im nächsten Jahr aus. Der Auftakt seiner Abschiedssaison gelang.

Bild: zVg

Das Schutzkonzept des KKL Luzern sieht vor, dass die Besucher*innen so rasch wie möglich den Weg durch den Eingang zu ihrem Sitzplatz finden und sich somit möglichst wenige Ansammlungen ergeben. Möglichst frühzeitig vor Ort sein, lautet die Devise. Endlich wieder im weissen Saal sitzen und das Orchester nicht im Videoformat, sondern live sehen und hören zu dürfen, liess die Aufregung auf das Kommende also bereits im Vorfeld steigen. Die Orchestermitglieder wurden mit einem warmen Applaus begrüsst, während sie sich auf ihren Platz begaben. Die letzte Saison mit dem amerikanischen Chefdirigenten James Gaffigan – sie war lanciert.

Erschreckend laut, fast ohrenbetäubend begannen die Percussionisten Coplands «Fanfare for the common man». Ein sauber intoniertes Trompeten-Unisono folgte und kündete den Beginn an: des Konzerts wie auch der Saison.

Souverän und abermals beeindruckend führte Gaffigan das gesamte Percussions- und Blechblasregister des Luzerner Sinfonieorchesters und brachte auf den Punkt, was 1942 eine «der Zeit und dem Temperament angepasste Fanfare» darstellen sollte. Das «Jahrhundert des Normalbürgers» wurde vom damaligen US-Vizepräsidenten Henry A. Wallace ausgerufen und inspirierte den amerikanischen Komponisten Aaron Copland (1900 bis 1990) zu seinem wahrscheinlich bekanntesten Werk.

Wallace beschrieb ein liberales Weltsystem, wo Freiheit, Gleichberechtigung und Opportunität den globalen Frieden generieren sollen. Schaut man sich heutzutage im Land der unbegrenzten Möglichkeiten um, wären diese Werte wohl schwieriger zu finden.

Wen meinte Wallace mit «the common man»? Was war denn 1942 «normal»? Die Sehnsucht nach «Normalität», nach Gewohnheiten und Gepflogenheiten ermöglichte überhaupt das Stattfinden dieses Konzerts. Derweil steht dieses Bedürfnis nach einem gewohnten Rahmen, der uns Halt gibt und Geborgenheit vermittelt wird, heute oft im Widerspruch zu einer gesunden Debatte, die eigenen Verhaltensmuster zu überdenken und möglicherweise zu revidieren. Es stellen sich der Kulturwelt zentrale Fragen, da Langfristigkeit momentan kein Thema ist.

Der Intendant des LSO, Numa Bischof Ullmann, verlor einige Worte zum gehörten Werk und erwähnte, dass die Fanfare eins der ersten öffentlichen Aufführungen des damals 18-jährigen Gaffigans war. Da das Konzert in Stockholm der Pandemie zum Opfer fiel, wurde die Aufführung für die skandinavischen Fans übertragen und das Konzert auf 2022 verschoben.

Mit dem letzten Programmpunkt, der vierten Sinfonie von Johannes Brahms, seien viele Erinnerungen verbunden, schwärmte Bischof Ullmann und drückte gerührt seine Freude darüber aus, dass die Zuschauer*innen trotz der aussergewöhnlichen Umstände den Weg ins KKL Luzern auf sich genommen hätten.

Die schwedische Sopranistin Lisa Larsson war eine Erscheinung in ihrem goldig funkelnden Kleid, das einen Farbverlauf wie der eines Sonnenaufgangs aufwies. Wohltuender Optimismus begleitete ihre Erzählung, wie sie Franz Berwalds (1796 bis 1868) unbekannte Lieder aus ihrem Dornröschenschlaf weckte und mithilfe ihres Landmannes Rolf Martinsson auf eine musikalische «Traumreise» aufbrach.

Die Liedersammlung sei nie herausgegeben worden und somit möglicherweise bis zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung nie zur Aufführung gekommen, meinte die Sopranistin. Sie kündete den Beginn ihrer Reise in ihrem Heimatland an, von wo sie das Publikum mit nach Frankreich und schliesslich in die hiesige Umgebung des Luzerner Sinfonieorchesters begleitete.

Die Vielfalt dieses Konzepts war schnell zu erkennen. Die volkstümlichen Eindrücke der schwedischen Lieder, schwelgerisch und unglaublich gekonnt mit den warmen und dunklen Farben des Streichregisters aufgetragen, liessen die Bilder unendlich scheinender Nadelwälder vor dem inneren Auge aufleuchten. Die Stimme Larssons schimmerte dabei unaufdringlich und wohlwollend über die herbstlich temperierten Harmonien.

Tänzerische Walzerbegleitungen im Orchesterteppich begleiteten unsere akustische Exkursion in südlichere Regionen und führten die Reise weiter, mit einer wehmütigen deutschen Ader zur Romantik, wo sie in Luzern ein Ende fand.

Der Hintergrund des schwedischen Komponisten Franz Berwald ist erstaunlich: Dieser fand seine Berufung nicht nur als Musiker, sondern fasste auch als Orthopäde Fuss. Und als ob dem nicht genug wäre, erweiterte er seine Karriere als Betriebsleiter einer Sägemühle und später eines Glaswerks. Ein richtiger Tausendsassa.

Die vierte Sinfonie von Johannes Brahms (1833 – 1897) schmecke nach dem Steiermark‘schen Klima, in dem nicht einmal die Kirschen süss und reif werden, wie er selbst einigen Freunden berichtete. Bei der Uraufführung seiner Sinfonie in Meiningen stand Brahms höchstpersönlich am Dirigentenpult – eine Seltenheit.

Trotz des melancholischen Klimas wurden in dieser Sinfonie ungeheuer viele Emotionen gekonnt manövriert. Ein beeindruckendes Werk, das vom Luzerner Sinfonieorchester formidabel umgesetzt wurde. Mit verschlossenen Augen gab es so viele prickelnde Details zu entdecken. Unter der Leitung des energiegeladenen Gaffigan bildete das LSO eine Art atomare Einheit, welche die Höhe- und Tiefpunkte, die man in diesem gefühlsmässig hin- und hergerissenen Werk durchlebt, so überzeugend und authentisch vermittelte, dass man schliesslich erschöpft, aber erleichtert und zufrieden das KKL verliess.