Das Lied vom einsamen Mädchen. Eine Gebrauchsanweisung fürs philosophische „Ach“

Kleintheater, 27.05.2016: „Ach du – mein Ach. Oden an die Melancholie“, so heisst die neue Lieder- und Geschichtenshow von Georgette Dee und Terry Truck. Und spontan denkt man: „Ach nee, was denn sonst?“ Der vieles offen lassende Programmtitel wurde im Kleintheater von einem Vortragsabend eingelöst, der mit halber Dramatik und ganzem Tiefsinn alles bot, was die Liebhaber dieses legendären Duos erwarteten.

Auf dem Spielplanplakat war noch das vorausgehende Programm angekündigt, „Vom fliegenden Teppich – Wolkenlieder und Reisegeschichten“, und die Webseite des Schauspielers, der Sängerin Georgette Dee operiert noch mit dem etwas sperrigen Untertitel „Eine Ode an die süsse Melancholie und für fröhliche Pessimisten“. All das ist normal für so ein neues Programm, und das künstlerisch seit Jahrzehnten einander eng verbundene Duo Dee und Truck wechselte sein Angebot mit schöner Regelmässigkeit, sodass man ebenso regelmässig völlig durcheinanderkam, in welcher Show man nun eigentlich sass. Was eigentlich total egal ist. Denn die ganze Karriere der Diseuse, von „Black Butterfly“ (1981) bis heute, ist ein einziger grosser, hermetischer Kanon der erzählenden Liedkultur, des Chansons. Und in kaum einem der zahllosen kleinen, grossen und gigantischen Auftritte spielte die Melancholie keine Hauptrolle. Nun also das Ach. Und die einleuchtende Gebrauchsanweisung liefert die Dee gleich nach dem Einstandsstück vorweg: Sie unterscheidet das depressive Ich-Ach vom melancholischen Du-Ach und stellt sich als fröhliche Pessimistin vor – ein bisschen so, als hätte sie Sorge, der eine oder andere Besucher aus dem in der Überzahl mit ihr etwas älter gewordenen Publikum könnte ansonsten ichbezogenen Schaden anrichten in der Folgenacht. Diese erklärende Vorsicht war nicht immer vonnöten; die femme fatale des einst (nicht von ihr) so genannten „neuen deutschen Chansons“ schrubbte auch schon bedenkenloser – sarkastischer, fatalistischer, verzweifelter – über die Befindlichkeiten des Publikums hinweg. Das aktuelle Programm, das am 11. April im Hamburg Premiere hatte, ist an der Oberfläche nun nahezu sanft. Vielleicht liegt es aber auch einfach an Luzern, an einer noblen Zurückhaltung bei der Schweizer Premiere, denn hier gab es vor einigen Jahren auch schon mal mangels Vorbestellungen und Szene-Enthusiasmus kurzfristig abgesagte Konzerte. Unser biederkeitsverwöhntes Fischerdorf ist halt Lichtjahre entfernt von der Reeperbahn oder dem Nollendorfplatz. Doch auch wenn die Berufseuphoriker fern sind und der Hype der wilden Jahre schon längst ein wenig durchsackt – auf die Dee ist Verlass. Auch die neue Show wird erst vor Publikum ihr endgültiges Format finden, und jenes wird dann wiederum in spontanen Launen zerzaust und dem Tagesgeschehen angepasst werden. Das erzählte Szenario bietet dafür alle Möglichkeiten: Georgette Dee berichtet diesmal in einer Art Miniatur-Seifenoper vom Geschehen auf der Strassenterrasse ihres kleinen Häuschens im havelländischen Dorf Gatow. Dort hat sie einen Mikrokosmos gefunden, aus dessen Alltag sie mittels sehr authentisch scheinender, liebenswerter Progatonisten berichtet: Frieda vom Kiosk, die Änderungsschneiderin Sybille, die Undercovergastronomin Mira, die gemeinsame Leihtochter Locke, deren SUV-fahrender Liebhaber, der studierte arabische Automechaniker, der sensible Kommissar – das Casting ist so simpel wie funktional und taugt für einen Bericht quer durch mehr als ein Jahr. Alle Szenen folgen dem Motto: Was im Leben schiefgehen kann, das geht auch schief; es fragt sich nur, wann, und was genau das Schiefe daran ist. Und wie viel Heiterkeit man aus dieser schlichten Erkenntnis schöpfen kann, das zeigen die Dee und der Truck halt wieder mal so gut wie kaum jemand anders. Und natürlich kommen auch die strammen, lüsternen Jünglinge mit all ihrem Begehren und Begehrtwerden vor, in der philosophischen, stets dem Moment entsprungen scheinenden und doch wohlkalkuliert zersplitternden Conférence, die jeden Abend der Madame Dee so unverwechselbar macht. Manchem mag dies alles ein wenig flach erscheinen, aber es geht gar nicht um den grossen Erkenntnisgewinn. Die Dee und der Truck waren und sind mit ihrem leichthändigen Zaubertrick, die Welt in eine Bühne und die Bühne in eine Welt zu verwandeln, immer noch und wieder Erkenntnis genug. Ach, diese Hände: Über die haben noch viel zu wenige geschrieben. Über die des immer schon unglaublich britisch auftretenden und mittlerweile in nahezu aristokratischer Noblesse erblühten Terry Truck, und wie er sie mit grösstem Understatement aus dem Spiel nimmt, indem er sich ganz und gar in den Hintergrund stellt und doch den ganzen Abend musikalisch fundamentiert. Oft hört man ihn gar nicht bewusst, wenn die dusselige Kuh am anderen Ende des Flügels gerade alles in Grund und Boden plappert und wieder mal die Duse auf Koks gibt, dabei trinkt sie heute mal nur aus grossen Wasserbechern. Dann schieben sich plötzlich wieder Eissler- und Satiephrasen ins Gesamtbild herein, Schubert, Schopin und Schbeethoven, und man weiss, dass sie weiss, dass sie ohne ihn nicht nichts, aber eigentlich verloren wäre. Naja, und dann ihre Hände erst, wenn sie sich mit dem leichten Tremor der Bühnenspannung um das Mikrostativ wickeln oder den Flügel festhalten und als Ablenkung von verlorengehenden Halbsätzen das Serviettchen unters Glas schieben und wieder fortnesteln und immerfort durch die hell gewordenen, dicht gebliebenen Haare fahren, von denen manchmal eines langsam und von der Melodie getragen im Gegenlicht dramatisch zu Boden schwebt. (Keine Sorge, sie hat noch genug.) – Diese riesigen Holzfällerhände vor der in wuchtigen Farben gewandeten Siegfried- oder Walkürenstatur, die ihre ganz eigenen Geschichten erzählen und denen man den ganzen Abend hindurch mit den Augen zuhören möchte, wäre das Lied nicht lauter. Und ach, natürlich, diese Lieder. Darum geht’s ja schliesslich, zumindest am Rande. „Da habe ich schon Spannenderes gehört“, sagt etwas in mir, aber Sie merken schon längst, dass ich mich weder am Wettstreit um ewig nachhallende Kritikerzitate noch an den bei der Dee so gerne gepflegten Überhöhungen an Lob und Tadel beteiligen möchte. Ich habe ihr einfach zuviel zu verdanken, seit sie mir 1985 die Lieder von Hollaender und Konsorten („Wenn ich mir was wünschen dürfte“, „Illusions“, „Zum ersten Mal“) und natürlich auch ihre eigenen „Geburtstagslieder fürs Hexenkind“ unter die noch nicht ganz ausgehärtete Fontanelle schob. Und als mitten im Konzert im "Kulturpalast", in einem uralten Wuppertaler Wohnhaus, jemand im Stock darüber zu duschen begann und das Sprudeln im Fallrohr hinterm Klavier die Musik übertönte, da brachte Terry Truck kaum bemerkbar die Melodie von „Stormy Weather“ ins Spiel und die Dee stieg sofort darauf ein und sang den Song in einer unvergesslichen Version. Es ist, als ob ich mir damals vorgenommen hätte, niemals eine simple Leistungskritik über sie zu schreiben, und auch diesmal ginge eine solche am Erlebten völlig vorbei. Ja, Spannenderes habe ich durchaus schon gehört, von ihr und von anderen. Manches Lied konnte ich gar nicht so recht einordnen; die meisten wird sie unterdessen auch in vielen Programmen gesungen haben. Aber das spielt keine Rolle, wenn sie einen dann wieder mit aufs Glatteis nimmt wie zum Beispiel mit dem „Lied vom einsamen Mädchen“ von Robert Gilbert und Richard Heymann aus dem Jahr 1952, einst von der Knef gesungen, mir aber nur in der Version von Nico bekannt. Dann zieht sie (und natürlich immer auch der Truck) einen tief hinein in die uns warm umfangenden Sümpfe der Melancholie … Und gleich nach dem Blackout an jedem Liedende (eine leicht penetrante, uncharmante Lichtregie) fegt sie schon wieder über die vorsommerlichen Bürgersteige von Gatow und erzählt vom Betriebsausflug der Vorsokratiker, vom Motor des Begehrens, von alten Liebesbriefen im Erbgehöft und davon, dass sich im Juni die meisten Menschen in die Bäume hängen. Gefolgt von einem Song unter Springsteenverdacht, dargebracht im weiten Spannungsfeld zwischen Alexandra, Zarathustra und Erlkönig, doch niemals nur von gestern, sondern purer Moment. Ach, die Dee – sie ist älter geworden, mit aller gebotenen Würde. Der Truck wie schon gesagt ebenfalls, wie er da in vollendeter Haltung am Flügel hockt und leise „It’s deetime, darling“ zu flüstern scheint. Und es gelassen nimmt, dass sie sich nicht mehr lasziv scheiternd auf dem Instrument herumwälzt, stets mit einer Champagnerflasche am Hals. Sie steht monologisch, fast statisch (und schuhlos, in Strümpfen) an ihrem Ort, vielleicht noch eine Nachwirkung aus ihrer gerade abgespielten Schauspiel-Soloproduktion „Helena – Plädoyer für eine Schlampe“. Eine falsche Büste hat sie noch nie gebraucht, die Diva hat man ihr schon immer geglaubt. Und eine geschminkte Fassade trägt sie weiterhin nicht auf, schaut ungeliftet in jeden Abgrund, den die Welt ihr und uns auftut. Und sich genau davon die Fröhlichkeit und Liebe nicht wegnehmen zu lassen, sie ganz im Gegenteil immer wieder neu zu erzeugen und zu geben, das ist der Grund, Abend für Abend den Vorhang aufs Neue aufzuziehen. „Fast ein jeder hat die Welt geliebt, wenn man ihm zwei Hände Erde gibt“ – eine Schippe voll Brecht ins Gemüt gibt’s in jedem Programm. Und es ist faszinierend, wie sie von Lied zu Lied etwas jünger wird, die leichte Attitüde der Gealterten zu Boden flattern lässt und die Beschwerden des Alltags ins Komische und Kosmische zerrt. Die Dee, „die“ Georgette Dee ist, das möchte man gern vergessen, lediglich eine Bühnenfigur. Berührenderweise eine, die uns liebt. Die sich mit Spiegelbildern, Reflektionen und Camouflagen umgibt. (Die Dietrich, wie sie wirklich war?) Aber sie lässt mehr und mehr von der Lebenserfahrung des Privatmenschen  (Wikipedia: „bürgerlicher Name unbekannt“) dahinter durchscheinen. Das mag das Leben kurz vor Sechzig halt mit sich bringen. Und ihre „persönliche Nationalhymne“ in der zweiten Zugabe, das auch mimisch dargebotene „Ich bin von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt“ (Friedrich Hollaenders Startlied für Marlene Dietrichs Bühnenleben) glaubt man ihr oder ihm so oder so, als Dee oder als Liebender. Ach, was fehlte: Der Rauch. Vor vier Jahren gab es einen Bruch, gesundheitlich zusammen nämlich, und seither gibt es die „Lieder zur Zigarette“ halt ohne. Das macht aber nichts. Seltsamerweise ist nun festzustellen, dass sie den Rauch nie wirklich gebraucht hätte. Sie qualmt ja auch so aus allen Poren … Das Eis, auf dem sie geht, wird – schliesslich muss man in der Pause zum Rauchen kurz vor die Tür ins wirkliche Leben zurück und spürt es dort sofort– spürbar dünner. Es schmilzt schnell in unserer Zeit, in all diesem Hassen, Hetzen und Neiden. Es wird dünner, und die Dee und der Truck bleiben Schwergewichte einer einst erkämpften und gut gelebten Romantik der klassischen und aktuellen Moderne, die immer auch eine politische ist. Wir besuchen sie heute nicht mehr in grossen Hallen und Opernhäusern, sondern im nicht ganz ausverkauften Kleintheater. Das macht die beiden Luzerner Abende keinesfalls geringer. Und noch hält das Eis. Einen Dank an dieser Stelle auch ans Kleintheater! Dee-1_1985_BurkhardPeter

Georgette Dee 1985, © Burkhard Peter, Berlin