Das Klavier, die heilige Kuh

Einen packend reifen, ernst genommenen Chopin präsentierte uns am Donnerstag, 26. November 09 Emanuel Ax mit dem Chamber Orchestra of Europe am «Lucerne Festival am Piano». Des Festivalsberichts erster Teil.

In längst vergangenen Zeiten ohne Tonträger und Radio sah die musikalische Bildung gemeinhin so aus: Man besorgte sich einen Klavierauszug der neuen Mozart-Oper oder der neuen Beethoven-Sinfonie und setzte sich – ans Klavier. Noch bei Jane Austen spielen nahezu alle Protagonisten Klavier, die Lieben ganz gut, die Bösen etwas weniger. Im Autorenkino des letzten Jahrhunderts wendet sich das Blatt; Egal ob kaltherzige Vertreter des Grosskapitals oder argentinische Faschisten, um deren ungute Rolle bildlich zu verraten, stellt ihnen der Bühnenbildner jeweils ein Klavier in die Stube. Auch im zwanzigsten Jahrhundert darf das Instrument in keiner guten Stube fehlen - als heilige Kuh des Bildungsbürgertums, sozusagen. Und bis heute wird das Klavier geschätzt – von den einen als Wertanlage (der Steinway auf der grossen Bühne im KKL kostet so viel wie zwei bis drei Autos oder ein Landrover Sport), von den anderen wegen seines Klangs und seines unvergleichlich breiten (Solo-) Repertoires. So ist das Klavier nur zu Recht eines der wenigen Instrumente, denen ein eigens darauf ausgerichtetes Festival gegönnt ist: Das Lucerne Festival am Piano. Hier treten während einer Woche ausgesuchte Pianisten und Pianistinnen in Solo-Rezitals oder als Orchestersolisten auf. Dass hier - obwohl die Klavierliteratur so umfassend ist wie bei keinem anderen Instrument - sehr oft die gleichen Werke zu hören sind, könnte einem leid tun. Andererseits bieten sich so auch interessante Vergleichsmöglichkeiten:

Hier der Fels, dort das Bambusrohr So etwa am Donnerstag, 26. November, im grossen Saal des KKL. Auf dem Programm stand Frédérich Chopins zweites Klavierkonzert in f-moll mit Emanuel Ax und dem immer wieder vorzüglichen Chamber Orchestra of Europe unter James Conlon. Dasselbe Konzert haben wir noch vom Sommerfestival auf ebendieser Bühne in den Ohren, gespielt von Lang Lang. Wo wir damals von gleissenden Girlanden, brillanter Leichtigkeit, theatralischen Rubati und unbeschwert-charmantem Draufgängertum eingenommen waren, besticht Emanuel Ax mit anderen Qualitäten. Ax’ Interpretation wächst aus einem grossen Ernst. Trotz Leichtigkeit, Charme und Spielfreunde ufert das Kapriziöse niemals aus, sondern lässt einen starken, inneren Zusammenhalt spüren. Diese Stringenz in der phantastischen, ausschweifenden Romantik Chopins überzeugen auch im zweiten Programmteil, Chopins grande Polonaise brillante op. 22 in der Fassung für Klavier und Orchester, und zum Schluss noch in der sensiblen, traurig-spröden Wiedergabe des Walzer op. 34 Nr. 2 als Zugabe.

Glanzstücke Auch die Orchesterwerke dieses Abends gerieten dem Chamber Orchestra of Europe zu zwei Glanzstücken, Mozarts Ouverture KV 486 und Mendelssohns vierte Sinfonie op. 90, wobei mir letztere leider durch einen (äusserst korrekt gekleideten) Herrn in meiner unmittelbarer Nähe vergällt wurde, der ein höchst empörendes Verhalten an den Tag legte. Jener sah sich nämlich während des Konzertes genötigt, seine Schuhe auszuziehen und mir einen leider nur mit Knöchelsocken bekleideten Fuss entgegenzustrecken. Dies zeigt, wie zweifelhaft die Aufforderung nach festlicher Kleidung auf den Konzerttickets ist; trotzdem sind Anzug und Kleid die Schlüssel zu Last-Minute-Tickets im Parkett. (Jeansträger müssen meist mit Balkonplätzen vorlieb nehmen, sagte mir einst eine Frau an der Billettkasse). Wer aber etwas festliche Kleidung (für Herren zum Anzug immer Kniesocken!) im Schrank hat, und obendrein Besitzer eines Studierendenausweises ist, sollte die Chance nutzen, für die folgenden Konzerte (das Piano Festival dauert noch bis Sonntag) ein Last-Minute-Ticketfür 20 Franken zu ergattern.