Das Einzelne und das Ganze

Neustadtstrasse 6/8, 21.08.15: An der Vernissage der Monographie «Die Zusammensetzung der Weile» bekam der Autor nicht nur einen Einblick in das Werk der Luzerner Künstlerin Anna Margrit Annen, sondern lernte auch, dass Vernissagen lehrreich sein können.

Beim Betreten des Raumes an der Neustadtstrasse 6/8 überlagert das Viele zunächst das Wenige. Das Publikum ist zahlreich erschienen und in lebhafte Gespräche vertieft. In einer Ecke steht ein Tisch, an dem das zu taufende Buch angeschaut und erworben werden kann. An den Wänden hängen gut 20 Zeichnungen von Anna Margrit Annen. Annen, die in Luzern lebt, studierte ebenda freie Kunst, später Videokunst in Basel und betätigt sich seit 30 Jahren als freie Künstlerin. Der Autor, dessen Wissen auf dem Bereich der bildenden Kunst auf Interesse und offene Augen beschränkt ist, verschafft sich einen ersten Eindruck. Und ist zunächst überfragt. Die Zeichnungen, mit schwarzem Filzstift und gelegentlichem Blau und Grau gestaltet, sind kleinteilig, verschachtelt und abstrakt. Punkte, Linien, hier und da eine grössere Fläche. Der erste Eindruck manifestiert sich als leichte Überforderung.

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Das künstlerische Schaffen Annens lasse einen zunächst oftmals überfordert zurück, sagt Heinz Stahlhut einige Minuten später bei seiner Rede. Stahlhut, seines Zeichens Sammlungskonservator des Kunstmuseums Luzern, ist einer von drei Textbeitragenden zu «Die Zusammensetzung der Weile». Seine Lesart von Annens Werk betitelt er im Buch mit «Ordnung und Zufall», in der Rede mit «Ordnung und Regelbruch» und was beim Autor ankommt ist: «Vermessung und Chaos». Es ist ein fruchtbarer Ansatz und ein rarer, lobenswert konkreter Input für einen Cüpli-Anlass wie eine Vernissage. Der zweite Blick, nun etwas angeleitet ausgerichtet, lässt plötzlich Bilder entstehen. Und der Raum, ein ausgeräumtes ehemaliges Ladenlokal, bietet still und heimlich eine Analogie für den Effekt von Einzelnem und Ganzem, den der Autor auszumachen beginnt. An einer Wand hängt als letztes Überbleibsel vorheriger Nutzung ein Wasserhahn vor einer gekachelten Fläche der Wand. Der mit der Wand verbundene Teil der Abflussröhre schaut noch heraus. Daneben eine metallene Seifenablage mit Schrauben drin. Was den gekachelten Teil der Wand von Rest des Raumes unterscheidet, ist, dass die das Ganze bildenden Einzelteile sichtbar sind. Was Wasserhahn und Röhre interessant macht, ist, dass sie scheinbar sinnlose Überbleibsel einer aufgelösten Struktur sind. Was die Schrauben in der Ablage so passend macht, ist, dass das Ganze das Einzelne trägt. So verhält es sich auch mit den ausgestellten Zeichnungen. Eine der Zeichnungen lässt an ein Bergrelief denken. Annen belässt es aber nicht bei der Form des grösseren Bildes, sondern unterteilt sie in kleinere Flächen. Eine andere Zeichnung zeigt ein Raster – ein vielfach verwendetes Element – bei dem ein scheinbar beliebiger Teil hervorgehoben ist. Ein weiteres Bild kontrastiert ein kleinteiliges Raster, das mit Punkten angefüllt ist, geschickt mit einer geschwungenen, an einen Konzertflügel erinnernden Form. Dabei wird dem Betrachter kein Bild vorgegeben, aber die Möglichkeit, Bilder zu finden, geschenkt.

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Die kleine Ausstellung zeigt nur einen Bruchteil von Annens künstlerischer Bandbreite. «Die Zusammensetzung der Weile», von Megi Zumstein und Claudio Barandun wunderbar gestaltet, zeigt alles: Die Zeichnungen, die Malerei, die Installationen, die Videos. Neben Heinz Stahlhut liefern Zsuzanna Gahse und Annamira Jochim kenntnisreiche Texte. Sei es im Einzelnen der Ausstellung oder im Ganzen der Monographie: Die Auseinandersetzung mit dem Werk Anna Margrit Annens ist zu empfehlen.  

Die Ausstellung an der Neustadtstrasse 6/8 kann noch bis Ende August besucht werden. «Die Zusammensetzung der Weile», 248 Seiten, 79.- Franken, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2015.