Comics zuhauf und aber auch «richtige» Kunst

26. Internationales Comix-Festival Luzern Fumetto, 1.–9. April 2017. Die Comics bleiben lesbar, man kann sie ertasten, begehen – und essen. All dies und noch viel mehr bietet Fumetto. Auffällige Novität: Es geht heuer auch nach Emmenbrücke. Ein kleiner Rundgang.

«Von Luft und Liebe» nennen die Absolventinnen und Absolventen der Genfer Fachhochschule HEAD (für «Haute école d’art et de design») ihre Werkschau. Der Bachelor-Lehrgang «Communicaton visuelle» ist mit einer Präsentation bei Fumetto zu Gast, im sogenannten «Satelliten»-Programm, das hier bestens passt: Ihren Ort hat HEAD in Emmenbrücke, im Parterre der akku Kunstplattform. Ein Sammelsurium von allen möglichen Formen des Zeichnens, aber nicht nur. Es wird auch gefilmt und gebastelt in 3D. David Mamie stellt zwei Skylines in den Raum, hölzerne Stadtlandschaften. Der Gebäude-Beitrag von Ben Thé ist begehbar, Titel «Cabane», lebensgross.

doucet akku

Im akku geht es in den ersten Stock zur grossen Ausstellungshalle mit der Retrospektive Julie Doucet, Fumetto-Stargast aus Kanada. Das Festival darf mit Fug behaupten, hier handle es sich um die «weltweit erste Retrospektive» der 52-jährigen Künstlerin. Interessant bei solchen Schauen ist, wie Unbekanntes und Unpubliziertes zu sehen sind, namentlich gezeichnete bzw. in diesem Fall: aquarellierte Frühwerke oder ein Schwarz-Weiss-Film aus dem Jahr 1984/85, Notizen, Skizzen-Bücher. Dann natürlich das Hauptwerk, die Reihe mit autobiografischen Comics aus den späten 1980ern und den 1990ern, Arbeiten, für die Julie Doucet bekannt und berühmt und vorbildlich wurde. Alltag, der ins Groteske driftet, Brutalo-Träume und -Fantasien, ironische Selbstvergewisserungen, alles in rigorosem Schwarz-Weiss in detailprallen Panels erzählt. Wieso die Frankokanadierin Texte auf Deutsch in gewissen Comic-Originalen verwendet? Ganze einfach: Zwischen 1995 und 1998, bevor sie wieder ins heimatliche Montreal zog, lebte und arbeitete sie in Berlin.

Auf dem Weg zum akku empfiehlt sich ein Halt im Comic-Bau 711, eine Strassennummer früher. Hier ist die Satelliten-Schau zum Sammelband «Tour de Suisse – Geschichten zur Geschichte» zu sehen, mit Radrennfahrerlegenden von Ferdy Kübler bis Fabian Cancellara, die Zeitspanne von 1933 bis 2016 umfassend; die Beiträge stammen von einem kleinen Who is Who helvetischer Zeichnerinnen und Zeichnern, 32 an der Zahl. Ebenfalls an der Gerliswilstrasse 21 zeigt Anda alias Anne-Danielle Furrer ihre aktuelle Arbeit. Die 30-jährige Absolventin der EPAC in Saxon kommt dieses Jahr in den Genuss des Festival-Förderinstruments «Fumetto-Schleuder», was heisst, dass eine Einzelausstellung eingerichtet wird und eine Publikation erscheint.

Weiter in der Viscosistadt zur Hochschule Luzern – Design & Kunst und ins Dunkel hinein. Denn die Comic-Bilder des Griechen Ilan Manouach kann man nicht sehen, wenigstens nicht mit den Augen. Hier ist der Tastsinn gefragt. «Shapereader», so Manouachs Erfindung, beruht auf einer eigenen Zeichensprache des Taktilen. Einzelne Relief-Elemente ergeben Geschichten, wenn man, so man die einzelnen Zeichen in diesem System beherrscht, auf lasergravierten Holzplatten erfühlt. Tastend sehen – und noch mehr: Exklusiv im Rahmen von Fumetto gibt es «Shapereader» auch als Schokolade...

lamelos

Lamelos ist ein vierköpfiges Künstlerkollektiv aus Holland, das mit seinem Treiben seit 20 Jahren für viele bunte Bilder, aber nicht nur, sorgt. Da gibt es freilich Comics, die Geschichten ihrer beiden Anti-Superhelden Kaasheld & Poephoofd (Käseheld und Gaggikopf). Die vier toben sich in den unterschiedlichsten Medien aus, da wird gezeichnet, gefilmt, siebgedruckt, figurengebastelt und vieles mehr. Lamlos hat sich in der Kapelle an der Rössligasse 12 in der Stadt installiert, in einem irren Wimmel-Universum von seltener bunter Bilderpracht. Vorne an der Rössligasse, im Erfrischungsraum, heisst es «Meyer spricht von Gratiskaffee». So heisst das neue Buch des Urners Luca Schenardi. Darin hat er eine Auswahl einer Langzeitstudie versammelt: Schenardi hat während zwei Jahren Teletext-Sätze gesammelt, die abstruser nicht sein könnten und zu den Wörtern Illustrationen gestellt. Spukhaft verschränkten sich damals am Bildschirm die News-Inhalte aus unerfindlichen Gründen zu neuen unglaublichen Inhalt-Kombinationen, wirklich wahr. Schenardi hat einzelne seiner Buch-Illustrationen in Riesenformate vergrössert, präsentiert einen thematisch passenden Trash-Film und würdigt in einer kleinen Installation alte Kommunikationstechnologie (Schnurtelefon, Schreibmaschinen u.a. auf einem Haufen).

lavier
© Bertrand Lavier, Adagp Paris, 2017/Editions Dilecta, Paris, 2017

Ein Raum im Kunstmuseum ist einem Werkzyklus des 1949 geborenen Franzosen Bertrand Lavier gewidmet. Der prominente Künstler macht in seiner Reihe «Walt Disney Productions» seit mehr als 30 Jahren dies: Auf der Lektüregrundlage einer Micky-Maus-Geschichte aus dem Jahr 1977, wo Micky und Minnie eines Moderne-Kunst-Ausstellung besuchen, schafft Lavier die Gemälde und Skulpturen aus dem Comic in echt, das heisst er führt Fiktives aus der Comic-Welt in die wirkliche (Kunst-)Welt.

Internationales Comix-Festival Luzern Fumetto, bis 9. April